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Archiv-Artikel

Die 100.000-Euro-Frage

MEDIZIN Impfen spaltet. Es gibt nicht mal Viren, sagen prominente Impfgegner wie Stefan Lanka und wetten, dass der Gegenbeweis nicht gelingt. Für ihre Haltung in Masernfragen ist unsere Gesundheitsredakteurin von vielen Leserinnen hart angegriffen worden. Wir haben einige der schärfsten Kritiker getroffen

Kleines Masern-Einmaleins

■ Empfehlungen: Der wirksamste Schutz gegen die Masern ist die Impfung. Babys können sie bereits ab neun Monaten erhalten, die zweite Impfung erfolgt zu Beginn des zweiten Lebensjahres. Erwachsene, die die Masern nicht hatten oder ihren Impfstatus nicht kennen, sollen nur einmal geimpft werden. Nach der Impfung ist man nicht ansteckend und kann die Masern auch nicht übertragen.

■ Nicht geimpft werden darf: in der Schwangerschaft, bei akuter schwerer Erkrankung, bei manchen Immundefekten.

■ Dennoch geimpft werden darf: bei einfachen Infekten, vielen chronischen Krankheiten, nach Kontakt zu Masernkranken, bei Hühnereiweiß-Allergie.

■ Der Ausbruch: In Berlin rollt seit Oktober 2014 die größte Masernwelle seit 2001. Am Freitag wurden insgesamt 839 Fälle registriert. Das entspricht 13 bis 15 neuen Meldungen pro Tag. Ein Abebben der Welle ist nicht in Sicht.

■ Die Risiken: Ungefähr bei einem von 1.000 Kindern, die an Masern erkranken, entwickelt sich eine Entzündung des Gehirns, häufig mit bleibenden Hirnschäden. In etwa einem Fall von einer Million Fällen tritt eine solche Gehirnentzündung auch nach der Impfung auf – das ist tausendmal seltener als bei der Erkrankung selbst.

AUS LANGENARGEN, BERLIN UND MÜNCHEN LENA MÜSSIGMANN, HEIKE HAARHOFF UND LISA SCHNELL

Am Tag zuvor noch hatte das Landgericht Ravensburg festgestellt, dass es die Masern gibt. Stefan Lanka muss deswegen 100.000 Euro zahlen. An diesem Freitagabend nun ist er in Langenargen am Bodensee zurück und bestreitet es schon wieder.

Ein kleiner Ort zwischen Friedrichshafen und Lindau. Mit Feriendorf und Privatpensionen für Urlauber. Der See und die Nacht sind schon eins, schwarz. Im Restaurant trinken die Gäste Bier. Oben im zweiten Stock unterm Dach sitzen etwa 30 Leute in ein paar Stuhlreihen. Vorne steht Stefan Lanka, Dr. Stefan Lanka, im Licht des Projektors. Ein grünblauer Riesenvirus, gezeichnet und mit dem Beamer auf eine Leinwand geworfen, tanzt über seinen Körper, wenn er davor hin und her läuft.

Lanka ist Biologe. Und Virologe, sagt er. Man kann ihn wohl, ohne zu übertreiben, den größten Impfgegner Deutschlands nennen. Einen Virenleugner.

Er hat ein Buch geschrieben: „Impfen und AIDS: Der Neue Holocaust“, 218 Seiten. Kinder zu impfen sei unnötig. Denn krank machende Viren gebe es nicht, sagt er. Nicht bei Masern, nicht bei Ebola oder HIV. Alles erfunden und von Generationen von Medizinern nachgeplappert.

Lanka hält Seminare und Vorträge. Sein Werbespruch: „Lernen am schönen Bodensee. Einfach mehr wissen. Wissen vom Wissenschaftler.“ Eine Frau ist aus Hessen gekommen, um am schönen Bodensee zu lernen. Und ein Mann aus Nordrhein-Westfalen. Auch österreichischen Dialekt hört man an diesem Abend. Und vorne spricht Lanka über die Virusbeweisfrage, sein Lebensthema.

Er trägt ein weißes Hemd mit T-Shirt darunter, eine schwarze Hose und graues Haar. Lanka ist an die zwei Meter groß und 51 Jahre alt. Eine grobe Nasenfalte macht seinen Blick grimmig. Aber er spricht mit hoher Stimme. Wenn er etwas wichtig findet, zieht er die Augenbrauen nach oben. Er gibt sich als gütiger Lehrer, der jetzt mal die Wahrheit erklärt.

Im Publikum sitzen zwei Frauen, die ihre Kinder nicht geimpft haben; einer, der niemals Medikamente nehmen würde; einer, der zwei Jahre durch den Dschungel gerannt ist und nie Malaria hatte. Lanka sagt: „Von Suchenden werde ich wahrgenommen.“

Auf einer Website schrieb er 2011 ein Preisgeld aus: Es werde ausgezahlt, „wenn eine wissenschaftliche Publikation vorgelegt wird, in der die Existenz des Masernvirus nicht nur behauptet, sondern auch bewiesen und u. a. darin dessen Durchmesser bestimmt ist“.

Ein Arzt reichte mehrere Publikationen ein, die aus seiner Sicht den Nachweis lieferten. Doch Lanka zahlte das Preisgeld nicht. Der Arzt zog vor Gericht. Und bekam recht. Lanka will in Berufung gehen, nötigenfalls bis vor den Bundesgerichtshof.

Was für Viren?, fragt Lanka. Die Traumata seien schuld

Unterm Dach in Langenargen ist da nun also der grünliche Kloß auf der Leinwand. Ein Virus oder nicht? Natürlich nicht, sagt Lanka. Er hält das, was man als Viren bezeichnet, für körpereigene Partikel. Er hat diese Erkenntnis erstmals Ende der 90er Jahre, und sie führt zu Fragen: Warum werden die Menschen dann krank? Wo kommt etwa der typische Hautausschlag bei Masern her?

Lanka wird fündig in der sogenannten neuen germanischen Medizin. Demnach entstehen Krankheiten durch Traumata. Masern kämen von einem Trennungstrauma. Flüchtlingskinder hätten das, sagt Lanka. In Flüchtlingsunterkünften sind die Masern in Berlin zuerst ausgebrochen. Auch in Kitas litten Kinder zunächst heftig unter der Trennung von den Eltern. Und wenn in einer Schulklasse gleich mehrere Kinder erkranken? „Wenn man richtig hinschaut, ist da wahrscheinlich eine beliebte Lehrerin weggegangen“, sagt Lanka. Ansteckungsgefahr? „Nein, gar nicht.“

Erfinder der „neuen germanischen Medizin“ ist Ryke Geerd Hamer, den Lanka an diesem Abend so selbstverständlich zitiert, als müsse man ihn kennen. Hamer ist ein Arzt, dem 1986 die Approbation entzogen wurde. 1997 wurde er verurteilt, weil er mehreren krebskranken Menschen von einer schulmedizinischen Behandlung abgeraten und ihnen die Lösung eines Beziehungskonflikts nahegelegt hatte, um gesund zu werden. Sie sind gestorben. Hamer ist Antisemit. Er sagt, die Juden wollten die Nichtjuden ausrotten. Lanka findet schlimm, dass Hamer zum „primitiven Judenhasser“ geworden sei, dessen Ideen verbreitet er aber weiter.

Vor der Leinwand streckt Stefan Lanka immer wieder den Arm aus und zeigt, was man jetzt lesen soll: die Wahrheit. Sie wackelt, wenn er mit dem Finger gegen die Leinwand tippt.

Lanka sagt, die erste Aufgabe der Wissenschaft sei es, Wahrheiten anzuzweifeln. „Ich habe Respekt vor jedem Mediziner. Die müssen viel lernen. Aber sie übernehmen Konzepte und denken nicht darüber nach“, sagt er. Er hält sich für den besseren Wissenschaftler. Lanka ist an kein Institut, an keine Universität angekoppelt. Seine letzte wissenschaftliche Publikation stammt von 1995. Danach sei er knapp zwei Jahre „in der Medizin“ beschäftigt gewesen, wo, will er nicht preisgeben. Bis heute forsche er: „Ich habe ein leistungsfähiges Mikroskop zu Hause.“ Zu klinischer Erfahrung komme er, weil es Ärzte gebe, die seine Ratschläge befolgten, behauptet er.

Nach dem Vortrag dürfen die Besucher Fragen stellen. Woran ist das Kind in Berlin gestorben, wenn es keinen Masernvirus gibt? „Das war ein ärztlicher Kunstfehler“, sagt Lanka. Das Kind sei trotz bestehenden Herzdefekts geimpft worden. Das habe der kleine Körper nicht verkraftet. Diese Behauptung stellt ein Heilpraktiker aus Ellwangen im Internet auf. Lanka baut sie in sein Gedankengebäude ein.

Und was ist mit Ebola? „Die meisten Leute sind an Durchfall gestorben, weil sie Toxine in verdorbenen Speisen aufgenommen haben“, sagt Lanka. Die Frau aus Hessen im Publikum sagt: „Braucht man sich ja nicht zu wundern, sorry.“ Sie schwört auf „eine schöne Ernährung“, mit Frischkornbrei zum Frühstück.

Husten, Halsschmerz, eine leichte Grippe, gerade jetzt, wo kommt das her? Lanka fragt, ob er die Hand befühlen darf, wegen der Temperatur. Er fühlt. Und schaut. Und sagt, ein Schreck sei es gewesen, wegen irgendeiner Kleinigkeit. Wahrscheinlich drei Tage bevor sich die Erkältung bemerkbar gemacht habe.

Ob er mit einer HIV-positiven Frau schlafen würde, wird Lanka gefragt. „Ich würde nicht mit der Frau verkehren, wenn sie sich nicht sicher ist, dass sie keine Straftat begeht“, sagt Lanka. Umständlicher kann man ein Nein kaum formulieren.

Einer fragt, wie er sich schützen könne, wenn impfen nichts bringt. Lanka weist ihn zurecht: „Nicht dagegen was tun, sondern dafür!“ Ein Trauma erkennen und lösen, das ist Lankas Rezept gegen Ebola, Masern, die Frühlingsgrippe.

Nur anfangs fühlt man sich allein, findet Rückstieß

Einen Journalisten, der kritisch über ihn berichtet hat, geht er vor dem Publikum an. „Weil er schlecht hört, schreibt er’s falsch“, sagt Lanka. Und droht: „Wenn Sie sich hartnäckig weigern, sich das anzusehen, aber negativ schreiben, verstoßen Sie gegen das Presserecht.“

Um sich die Sache so genau anzusehen, wie Lanka es für nötig hält, zahlt man 90 Euro. So viel kostet sein Seminar am nächsten Tag. Die Leute würden lernen, wissenschaftliche Publikationen zu lesen, deren Inhalt sie dann verbreiten könnten. „Sie helfen mir dabei, dass sich dieses Wissen schneller durchsetzt“, sagt Lanka. „Und bitte, argumentieren Sie nicht emotional. Bleiben Sie ruhig, dann wirken Sie besser.“

2005 stand Lanka vor dem Amtsgericht in Rosenheim, weil er sich bei einem vorangegangenen Prozess gegen einen anderen Impfgegner echauffiert und den Richter als Babyficker bezeichnet haben soll.

Über seinen jüngsten Prozess haben Medien aus ganz Deutschland berichtet. Sogar die britische BBC. Darauf sei es ihm angekommen, sagt Lanka. Er glaubt, dass das Robert-Koch-Institut Informationen aus der Virusforschung zurückhält. Diesen Skandal habe er mit dem Prozess ans Licht bringen wollen. „Dafür nimmt man gerne mal ein Urteil in Kauf für 100.000 Euro, das kalkuliert man ein“, sagt er. Ob er den Betrag bezahlen könnte, ist fraglich. Er hoffe, dass sich „Whistleblower“ nun aufgerufen fühlten, ihm zuzuarbeiten.

Ein Mann aus NRW ist begeistert, wie Lanka sich und seine Idee in dem Vortrag verteidigt: „Wir können das alles heute Abend nicht prüfen. Er kann uns an die Wand reden, wenn er will.“ Der Mann wünscht sich, dass andere Forscher den Thesen nachgehen und inhaltlich geklärt wird, ob Viren wirklich Krankheiten verursachen oder nicht und ob es sie überhaupt gibt.

Aber vielleicht ist das schlussendlich gar nicht so wichtig. Mit naturwissenschaftlichen Nachweisen jedenfalls kann sich die Physiotherapeutin und Heilpraktikerin Katja Rückstieß dieser Tage nicht wirklich aufhalten. Sie hat so viel anderes zu tun, seit die Hauptstadt im vergangenen Herbst von dem größten Masernausbruch seit Einführung der Meldepflicht im Jahr 2001 überrollt wird. „Nächste Woche ist schon der nächste Elternstammtisch“, sagt sie. Sie lächelt, sanft, wissend, eine Spur überlegen. „Am Anfang“, sagt sie dann, „fühlt man sich so allein.“ Kunstpause. „Aber das stimmt gar nicht.“

Rückstieß, 29, glatte braune, sehr lange Haare, bittet in eine winzige gelb und weiß gestrichene Dachgeschosskammer eines Mehrfamilienhauses im Berliner Stadtteil Karow. Es ist ihre Praxis und der Ort, von dem aus sie die Elternstammtische für Impfskeptiker organisiert, an der Wand eine Arztliege, auf dem Holztisch vor ihr ein Flyer. Er zeigt ein properes, blauäugiges Baby, der Mund weit geöffnet, die Hände geballt, der Blick herausfordernd. „Wir impfen nicht!“, steht darüber.

839 Masernansteckungen hat das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales seit Oktober 2014 gezählt, ein Ende scheint nicht in Sicht. Die Zahl der Neuinfektionen ist auch in der vergangenen Woche gestiegen. Bundesweit sind 1.043 Masernfälle gemeldet. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO hätten es im ganzen Jahr bundesweit maximal 80 Fälle sein dürfen. Das Robert-Koch-Institut, Deutschlands oberste Behörde für Infektionskrankheiten, warnt vor teils großen Impflücken bei Kindern, aber auch Erwachsenen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat erst in dieser Woche wieder öffentlich eine Impfpflicht erwogen. Katja Rückstieß sagt: „Die Impfung ist unwirksam auf den Erreger.“ Auch gegen Masern Geimpfte seien ansteckend. „Aber den Ungeimpften reden sie ein schlechtes Gewissen ein.“

Masern werden bleiben, sagt Hirte. Trotz Impfung

Die wissenschaftlichen Studien und Untersuchungen zu Impfungen, die Gegenteiliges belegen und die ihr das Robert-Koch-Institut und das Paul-Ehrlich-Institut, Deutschlands Impfstoffzulassungsbehörde, zugesendet haben, hätten sie nicht überzeugt, sagt sie. Wohl aber der Beipackzettel, den sie vor etwa vier Jahren nach damals der ersten Kombiimpfung ihres Sohnes las, unter anderem gegen Tetanus und Diphterie. „Die Nebenwirkungen haben mich abgeschreckt“, sagt sie. Angaben über ihre statistische Wahrscheinlichkeit änderten das nicht.

Als ihre Mutter, eine gelernte Kindergärtnerin, ihr dann ein Exemplar des impf-reports schenkte, einer Zeitschrift für nach eigenen Angaben „unabhängige“ Impfaufklärung, fasste Rückstieß einen Lebensentschluss: Ihr Sohn hat keine weitere Impfung erhalten. Auch nicht gegen Masern. Hat sie keine Angst vor Ansteckung? Vor Entzündungen der Lunge? Des Gehirns? Bleibenden Schäden? Sie lächelt wieder. „Der Witz an schweren Krankheiten ist, dass sie nur kommen, wenn du dich vorher falsch verhalten hast.“

Bei einem Elternstammtisch neulich, sagt Katja Rückstieß, habe eine Mutter erzählt, dass sie ihr Kleinkind nicht habe impfen lassen, weil sie sah, wie sehr andere Kinder weinten nach dem Nadelstich. Rückstieß fand das richtig: „Masern sind schließlich eine seltene Erkrankung.“

Und vielleicht liegt genau hierin die Erklärung: Weil schwere Verläufe der Masernerkrankung weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind, machen viele ihre ganz eigene Risikoabschätzung: Masern, diese hoch ansteckende Infektionskrankheit, rangieren mittlerweile für viele auf einer Gefahrenstufe mit unterschiedlichen Grenzwerten für Fluorid in der Zahnpasta oder dem Allergiepotenzial glutenhaltiger Lebensmittel.

Andere kritische Eltern, sagt Rückstieß, lehnten es inzwischen aus Angst vor Anfeindungen ab, öffentlich über ihre Überzeugung zu reden. Das Misstrauen unter den Organisatorinnen der Berliner Elternstammtische ist groß. „Für ein Gespräch stehe ich wegen der Hetzkampagne gegen uns nicht zur Verfügung“, sagt etwa die bekennende Berliner Impfgegnerin Astrid Pahl. „Ich überlege mir das mit dem Interview“, sagt eine andere – und meldet sich nie wieder.

Am Ammersee, in seinem dunklen Naturholzhaus mit den blauen Fensterläden, sagt der Kinderarzt Martin Hirte, dass es Masernausbrüche wie jetzt in Berlin immer wieder geben werde. Daran könne auch eine flächendeckende Impfung nichts ändern. Vor zwei Jahren war München dran, davor Nordrhein-Westfalen. „Früher, als noch fast jedes Kind Masern bekam, gab es kaum Fälle bei Erwachsenen und Säuglingen.“ Hirte bemüht sich um Gelassenheit und Differenzierung. Er ist kein Impfgegner, aber wohl Deutschlands bekanntester Impfskeptiker. Sein Buch „Impfen – Pro & Contra“ erscheint inzwischen in der 17. Auflage.

Hirte, 60, trägt eine runde schwarze Brille, Jeans und blaues Hemd. Seine Frau huscht im Blumenkleid durch die Küche, auf der Kommode ein Glas Bionusscreme, an der Wand ein Bild seiner Tochter im Hippieoutfit mit Stirnband. Mit den Argumenten gegen das Impfen beschäftigt Hirte sich seit 1998. Damals las er Studien, wonach aluminiumhaltige Impfstoffe die neurologische Entwicklung von Frühgeborenen verlangsamten. Das war die „Initialzündung“, sagt er.

Viele Impfungen seien sinnvoll, etwa Tetanus, Polio oder Diphterie. Die flächendeckende Impfung gegen Masern findet er allerdings problematisch. Denn ganz ausrotten lasse sich die Krankheit ohnehin nicht.

Mittlerweile sind 95 Prozent der Schulanfänger geimpft. Bei fünf Prozent von ihnen wirkt die Impfung aber nicht. Es werden also immer mindestens zehn Prozent aller Erwachsenen ohne Schutz sein. „Das Ergebnis sehen wir in Berlin“, sagt Hirte. Dort sind mehr als die Hälfte der Infizierten im Erwachsenenalter. Für sie sei die eigentlich harmlose Kinderkrankheit weitaus bedrohlicher. Genau wie für Kinder, die im ersten Lebensjahr krank werden, weil ihre Mutter ihnen nicht genügend Antikörper weitergegeben habe. Auch Martin Hirte führt den Maserntod in Berlin auf einen Herzfehler zurück. Das Universitätsklinikum Charité macht klar die Masern verantwortlich.

Trotzdem: Seine vier Kinder sind gegen Masern geimpft. Neuerdings empfiehlt auch er, das schon bei Kleinkindern machen zu lassen. Nicht um das Kind zu schützen, sondern seine Umgebung. „Die Kinder werden zur Bedrohung für ihre eigenen Eltern“, sagt er. Hirte, der seit 1990 eine homöopathisch ausgerichtete Praxis in München betreibt, hielte eine Impfpflicht für verfassungswidrig. „Sie verstößt gegen zwei zentrale Artikel des Grundgesetzes: das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Unantastbarkeit der Menschenwürde.“

Quastenberg sagt: Krank sein macht gesünder

Impfen müsse eine individuelle Entscheidung bleiben. Er kritisiert, dass Krankenkassen Beratungsgespräche nur zahlten, wenn diese zu einer Impfung führten. Und er stellt die Autorität der Impfkommission infrage: ein „unprofessionelles Gremium, das mit der Pharmaindustrie verbandelt ist“. Es ermutige Eltern, gegen impfkritische Ärzte vorzugehen. Er erzählt von einem Fall, in dem eine Mutter, deren Kind wegen ihrer Röteln während der Schwangerschaft schwer krank zur Welt gekommen sei, ihren Gynäkologen verklagt habe. Der habe beweisen können, sie über eine Impfung aufgeklärt zu haben, verurteilt worden sei er trotzdem. Denn er hätte es nicht mit der nötigen „Dringlichkeit“ getan.

Cornelia Quastenberg, 63, einst Sozialarbeiterin, heute Taxifahrerin in Berlin-Kreuzberg, hat der taz einen Brief geschrieben wegen der Masern: Die Berichterstattung sei „unsäglich einseitig pro Impfung“, bemühe einzig die Argumente der „forschenden Pharmaunternehmen“ und werfe insofern die Frage auf: Wer bezahlt die taz?, kritisierte Quastenberg darin Anfang März.

Jetzt, gut zwei Wochen später, sitzt sie, eine große, fröhliche Frau, in einem Café am Tiergarten und will erst mal aufräumen mit ein paar Vorurteilen. Es gehe ihr nicht „ums Bekehren“. Und die Schulmedizin, dies wolle sie vorausschicken, sei „in manchen Fällen ein Segen“. Etwa damals, als sie selbst den bösartigen Tumor im Oberschenkel hatte.

Aber bei der Masernimpfung werde aus der Mücke ein Elefant gemacht. Der Sinn von Kinderkrankheiten sei doch, „sie ordentlich zu durchleben, dann ist man nämlich hinterher gesünder“. Genau aus diesem Grund dächten sie und ihre Lebenspartnerin, Mutter einer elfjährigen Tochter, derzeit darüber nach, „wie wir es hinkriegen können, dass sie mit den Masern in Kontakt kommt, dann hat sie das durch“. Denn eine Impfung kommt für die beiden Frauen nicht infrage – wegen der Konservierungsstoffe in den Impfdosen. Für fahrlässig oder gar unsolidarisch – wegen der potenziellen Gefährdung Dritter – hält sie diese Entscheidung nicht: Sollte ihre Tochter an den Masern erkranken, dann könne sie zwar andere Menschen anstecken. Aber die könnten sich ja impfen lassen, wenn sie Angst oder keine Zeit hätten für die Krankheit. „Ich finde, jeder soll frei für sich entscheiden dürfen“, sagt Cornelia Quastenberg.

In gewisser Weise findet das Berliner Verwaltungsgericht das auch – und hat Ende vergangener Woche einer Berliner Schule recht gegeben, die Ungeimpften die Teilnahme am Unterricht untersagte. Na und? Cornelia Quastenberg nippt an ihrem Latte macchiato: „Wenn die staatliche Schule unsere Tochter nicht mehr will, bleibt uns immer noch die Waldorfschule.“

Lena Müssigmann, 29, ist Korrespondentin der taz in Baden-Württemberg

Heike Haarhoff, 45, ist taz-Redakteurin für Gesundheitspolitik

Lisa Schnell, 30, ist Bayernkorrespondentin der taz