GUTER VOGEL: Kindes „Aus“-Knopf
Von Libretto, dem Meistersänger, war hier schon einmal die Rede. Die Szene endete damit, dass Libretto eine Braut erhalten hatte. Nun: Aus der geplanten Ehe wurde nichts. Bald erwies sich nämlich, dass die Chemie nicht stimmte. Die Braut zog sich dauernd die Federn aus, und so ein zerzauster Kanarienvogel ist ein trauriger Anblick. Libretto seinerseits verstummte einfach mit der Braut im Käfig. Sie ist dann in eine große Voliere umgezogen.
Selbst kam ich neulich in den Genuss von Librettos Tonkunst, als ich kurz in dem Geschäft aushalf, in dem Libretto seine Tage verbringt. Dort trafen an einem Tag eine Mutter und ein Kind ein. Der Kleine lief herum und begann plötzlich zu brüllen, er schrie aus Leibeskräften. Die Mutter versuchte, ihn zu trösten, zu beruhigen. Doch es nutzte nicht viel. Die junge Mutter entschuldigte sich, das Kind sei krank.
Wir hörten das Geschrei eine Weile an, dann schritt Libretto zur Tat. Er stimmte ein Lied an, und wie stets sang er erst ein paar Töne eher für sich, als wolle er kontrollieren, ob sie gut herauskommen. Dann legte er los: Er pfiff und zwitscherte lautstark in das Brüllen hinein. Als das Kind ihn hörte, verstummte es, als habe jemand auf den „Aus“-Knopf gedrückt.
Der Kleine schaute verblüfft. Mit tränenüberströmtem Gesicht stapfte er los in Richtung Gesang. Mit buchstäblich offenem Mund blieb er vor Libretto stehen. Aufgeregt deutete er auf den Vogel, als wollte er sagen „da, da, da“ kommt die Musik her. Libretto trillerte, brillierte, wie angewurzelt stand das Kind und blieb mucksmäuschenstill.
Die Mutter entspannte sich. Sie konnte in Ruhe erledigen, was sie wollte. Und bald nachdem die beiden den Laden verlassen hatten, beendete Libretto das Konzert. Er plusterte sich auf, steckte den Kopf ins Gefieder, er teilte mit: „Ich bin dann mal eben für eine Weile weg.“
GUNDA SCHWANTJE
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