Verirrt im Märchenwald

Eine sehenswerte, aber eigentümlich richtungslose Hänsel-und-Gretel-Inszenierung schwankt in Bremen zwischen Traditionalismus und Modernismen. In Hannover wird dagegen komplett ironiefrei die ästhetische Allianz mit dem Weihnachtsmarktbudenzauber gesucht. Ein Inszenierungsvergleich

AUS BREMEN BENNO SCHIRRMEISTER

Der dramaturgische Knackpunkt ist immer die Englein-Szene. Denn sie kann so grausam sein, die Märchenoper „Hänsel und Gretel“: Entweder sie versinkt im hemmungslosen Kunstschnee eines kitschigen Fabelwaldes. Dann schickt die Regie zum Ende des zweiten Aktes 14 wandelnde Jahresendflügelpüppchen auf die Bühne. Goldgelockte, versteht sich. Oder aber sie gibt sich brutal modernistisch. Dann hat das Produktionsteam hier ein dickes Problem, das es meist mit Versatztypen des Regietheaters löst, sprich: Beschlipste Männer mit Anzug, Aktenkoffer und Hut, die gut in einen Großstadtdschungel passen.

Die von Christian Schuller verantwortete Bremer Aufführung der Mutter aller Weihnachtsopern – Premiere war am Freitag – entscheidet sich für ein striktes Weder-Noch, das man auch als tastendes Sowohl-als-Auch deuten kann. Und zwar nicht nur bei den Engelchen.

Diese Unentschlossenheit charakterisiert die gesamte Produktion: So hatte Regisseur Schuller vorab jedem, der es hören wollte, gesagt, dass ihm „die Jahreszeiten-Klischee-Ecke“, in die eine unselige Rezeptionsgeschichte diese Oper gedrängt habe, ihm „höchst suspekt“ sei.

Konsequent wäre es dann gewesen, sich einer „H&G“-Inszenierung zu verweigern, es sei denn der Spielplan terminiere die Premiere für – na sagen wir mal: das erste Juniwochenende. Immerhin schmeißt die von materiellen Nöten schier erdrückte Mutter die Geschwister ja raus, damit sie Erdbeeren pflücken gehen.

Allenfalls ein Promotion-Gag ist die „Bremer Textfassung von Elke Heidenreich“: Die Prominente hat ein paar Reime geglättet. Und sie hat dem Vater – im Originallibretto Besenbinder – einen zeitgemäßeren Job verschafft. Er hat nun eine Stelle bei einer Siedlungsbaugesellschaft gefunden.

Dem Gesamtverständnis schadet das nicht. Es hilft aber eben auch nicht, den Bruch zwischen eher realistischem ersten Teil und märchenhaftem Waldgeschehen zu kitten.

Man hat aufs lebensgroße Knusperhäuschen verzichtet, stattdessen eine reich gedeckte Festtafel aufgebaut – auf der, im Zentrum, ein Lebkuchenhaus steht. Bei der Vernichtung der bösen Hauptfigur gibt es einen Riesenknall – an den sich ein einfallsarmes Finale anschließt. Und nur halb hat man sich für einen männlichen Knusperhex entschieden. Die Rolle durch einen Tenor zu besetzen – das wird, um neben den sechs Sopran- und Mezzorollen eine tiefe Lage zu haben, oft gemacht, Engelbert Humperndincks Notentext lässt das ausdrücklich zu.

Wir wissen nicht, ob es wirklich daran liegt, dass Mihai Zamfirs Stimme weder mit der von Tamara Klivadenkos Hänsel, noch mit dem Bariton von Vater Markus Marquardt, geschweige denn mit jener von Gretel Nadine Lehner mithalten kann. Festzuhalten bleibt aber, dass der Hex im Dandy-Style, um die Kinder zu becircen, einen stummen Hexenautomat bedienen muss: Was auch lehrt, dass Inkonsequenz, wo sie sich zur Zweideutigkeit mausert, überraschend starke Eindrücke gebiert.

Denn die starr blickende Riesenpuppe im schwarz-weißen, die gesamte schachbrett-gemusterte Bühnenbreite einnehmenden Reifrock – das ist ein Bild, das Kinder in ihren Träumen heimsuchen kann. So wie das des von Jacqueline Davenport choreografierten Reigens der Engel. Denn diese bindet man in Bremen in die Figuren ausgewachsener Oberkellner. Sie balancieren dümmlich-besorgt blickende Pappmasché-Köpfe auf dem Hals und klassische Silbertabletts auf der ausgestreckten Hand und haben, am Rücken doch tatsächlich winzige Flügelchen. Geschäftig und um Unsichtbarkeit bemüht huschen sie durch den Bühnenhintergrund, während die verirrten Kinder eindösen.

Als Hänsel und Gretel dann endlich die Augen geschlossen haben, sammelt sich die ganze Gruppe hinter ihnen, und beschaut die Schläfer: 14 wiegende Riesenhäupter, wie ein Grasmeer im Wind, bedrohlich und rührend und komisch zugleich. Das Ganze also eine hübsche Sache, ordentlich, aber nicht berauschend dargeboten von den Philharmonikern und durchaus sehenswert. Aber keinesfalls richtungsweisend.

Bremer Theater, Goetheplatz, nächste Aufführungen: 12., 14., 15. und 21. 12., jeweils um 19.30, 23. 12. um 15.30 Uhr, 25. und 30. 12. um 18 Uhr

AUS HANNOVER JENS FISCHER

„Hänsel und Gretel“ kann so grausam sein. Diese ganz und gar nicht harmlose Gute-Nacht-Geschichte ist randvoll mit Bildern der Angst, reich an physischer und psychischer Gewalt. Prekariat, vernachlässigter Nachwuchs und eine Hexe als pädophiler Kinderschänder. Davon hat uns das Regietheater bereits erzählt, die Perversion im Biedersinn entdeckt, den zuckrigen Märchen-Stuck in gallige Gesellschaftskritik-Soße verwandelt.

„Hänsel und Gretel“ kann so grausam putzig sein, wenn all das komplett ignoriert, nur dem Märchenoper-Realismus gehuldigt wird. Für die Auslastungszahlen-Optimierung und Nachwuchsförderung beim Publikum. Dafür steht Steffen Tiggelers Inszenierung an der Staatsoper Hannover. Sie ist seit 43 Jahren fast immer ausverkauft und ist jetzt von der 3. Generation in Folge als Theaterinitiation zu erleben. Festlich herausgeputzte Kinder, ratlos ob des meist unverständlichen Gesangs, aber ruhig wartend – bis die böse Hexe linkisch die Bühne betritt.

Wir saßen in der 394. Vorstellung. Penibel durchgesaugt und exakt neu einstudiert ist die Aufführung. Pittoresk aufgeräumt wirkt das Armutsszenario. Irritierend dabei nur, dass der Vater frech unkritisch als Trinker dargestellt wird. Ansonsten siegt in Hannover der Mut zur anheimelnden Romantik, ironiefrei wird die ästhetische Allianz mit dem Weihnachtsmarktbudenzauber gesucht.

Obwohl die Handlung im Sommer spielt und außer dem Knusperhäuschen nichts auf die Adventszeit verweist, richtet man „Hänsel und Gretel“ zur Familien-Vorweihnachtsoper her: Rückzugsgebiet verlorener Stadttheater-Idylle, in der die Opernwelt noch heil ist. Special Hexenflug-Effect, dunkel dräuender deutscher Bühnenbild-Wald, 14 prachtvoll gelockte Glitzer-Engel, Sternenhimmel, Glühwürmchen-Gefunkel, ein rührend um seine Schwester bekümmerter Hänsel und ein Orchester, das beherzt in Humperdincks spätromantisch wagnernder Klangfülle schwelgt, beim stimmungsdichten Ausmusizieren der geheimnisvollen Natur-Sphäre mehr auf opulenten Harzgeruch denn kammermusikalisches Waldweben setzt.

Da ist dann auch die Hexenverbrennung nichts anderes als Weihnachtsbäckerei, der/die/das verlockende Böse, mit Bonbonwürfen ins Publikum um Gunst buhlend, wird zum Spekulatius umgeschmolzen. Woraufhin der Kinderchor in eine Art BDM-Ringelreihen verfällt. Jubel – über sehr ordentliches Musiktheaterhandwerk, auf naivtuerische Weise kinderfreundlich. „Hänsel und Gretel“ kann so harmlos unterhaltsam sein.