„Die Forderung heißt Stilllegung“

Eine neue Studie zählt mehr Leukämiefälle bei Kindern, je näher sie an Kernkraftwerken wohnen. Nun fordert der niedersächsische SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Jüttner eine Diskussion über den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie

WOLFGANG JÜTTNER, 59, ist Fraktionsvorsitzender und Spitzenkandidat der niedersächsischen SPD und ihr Spitzenkandidat für die Landtagswahl.

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Herr Jüttner, nach einer Studie für das Bundesamt für Strahlenschutz steigt das Risiko für Kinder an Leukämie zu erkranken, je näher sie an einem Kernkraftwerk wohnen. Für Ihren Parteikollegen, Bundesumweltminister Gabriel, ist das gerade mal Anlass, eine Anschlussstudie zu fordern. Ist das nicht ein bisschen wenig?

Wolfgang Jüttner: Die Reaktion ist schon angemessen. Der erste Schritt ist, den Zusammenhang zwischen der Wohnortnähe und der Strahlung festzustellen, das ist in der Untersuchung ja nicht geprüft worden. Aber das Ergebnis ist schon signifikant, vor dem Hintergrund gibt es über die in Auftrag zu gebende Untersuchung schon weitere Fragestellungen. Nämlich: Hat der Atomkonsens Bestand, wenn sich in diesen Folgeuntersuchungen ein Zusammenhang herstellt?

Und hat er Bestand?

Das kann ich nicht ermessen. Aber es deutet alles darauf hin, dass wir über den Atomkonsens neu diskutieren müssen. Denn der hatte zur Grundlage, dass der laufende Betrieb von Kernkraftwerken unter Gesichtspunkten der Gesundheitsunschädlichkeit laufen würde. Und mindestens das wird durch diese Untersuchung in Frage gestellt.

Für die Grünen ist bereits die vorliegende Studie Grund genug, eine Verkürzung der Laufzeiten zu fordern.

Ich habe die Fragestellung auch aufgeworfen. Wenn der laufende Betrieb von Kernkraftwerken gesundheitsschädlich ist – und diese Untersuchung legt das nahe –, dann müssen wir über das Abschalten von Kraftwerken reden.

Sehen Sie die Bereitschaft dazu?

Das ist keine Frage der Bereitschaft. Wenn die wissenschaftliche Erkenntnisse eindeutig sind, dann muss die Politik die Konsequenzen ziehen. Die Gefährdung von Menschenleben durch Energiegewinnung ist nicht akzeptabel.

Sie waren 1998 bis 2003 niedersächsischer Umweltminister: Hätten Sie da nicht schon lange eine solche Studie, wie sie erst jetzt vorgelegt wird, in Auftrag geben müssen?

Es hat ja Vorläuferstudien und Begutachtungen gegeben. Wir hatten das Problem konkret in Krümmel und Geesthacht, wo wir seit 1986 mit der Situation überhöhter Leukämiefälle bei Kindern haben. Es hat immer wieder Gutachten gegeben, die waren strittig gestellt, bis heute ist es nicht gelungen, den Sachverhalt aufzuklären.

Und was ist die politische Konsequenz daraus?

Der niedersächsische Landtag wird sich in dieser Woche im Einvernehmen zwischen allen Fraktionen noch einmal mit der Frage befassen, hier eine weitere Begutachtung und Diskussionsrunde unter Leitung des Bundesamtes für Strahlenschutz herbeizuführen. Es gab im April eine Anhörung im Landtag, die noch einmal deutlich gemacht hat, dass weitere wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden müssen. Bis heute ist unklar, ob es ein signifikanter Unfall in Krümmel oder in Geesthacht war. Oder aber, was sich ja durch die aktuelle Untersuchung aufdrängt, eine Gesundheitsgefährdung durch den laufenden Betrieb verantwortlich ist. Das gehört aufgeklärt, das ist Sache des Bundesumweltministers und das will er ja auch leisten.

Auch bei der Frage nach der Schädlichkeit des Rauchens gab es jahrzehntelang Studien und Gegenstudien, bis schließlich gehandelt wurde, weniger, weil es eine neue Studie, sondern den politischen Willen dazu gab. Ist es bei der Diskussion um die Atomkraft ähnlich?

Die Debatte, ob die Nähe des Kernkraftwerks Krümmel und des Atomforschungszentrums Geesthacht verantwortlich seien für die deutlich erhöhte Leukämierate bei Kindern in der Umgebung, wird bereits seit Jahrzehnten geführt. 1992 verklagte eine grüne Kreistagsabgeordnete das Atomkraftwerk Krümmel wegen des Todes zweier anwohnender Kinder. Sie forderte eine Umkehrung der Beweislast. Verschiedene Landesregierungen gaben Studien über Krebserkrankungen im Umfeld der AKW in Auftrag, so bereits 1992 von der damaligen niedersächsischen Umweltministerin Monika Griefahn. Auch die schleswig-holsteinische Landesregierung setzte bereits in den 90er Jahren eine Kommission zum Thema ein. Dabei kamen Wissenschaftler immer wieder zu gegenteiligen Ergebnissen: Teils wiesen sie jeglichen Zusammenhang zwischen Wohnortnähe zum AKW und Leukämieerkrankungen zurück und argumentierten damit, dass Blutkrebserkrankungen oft gehäuft in ländlichen Gebieten aufträten. Andere Forscher warfen im Gegenteil der Politik gezielte Verschleierung vor. GRÄ

Sie kommen schnell in eine Situation, wo Eigentumsrechte, die ja auch bestehen, eingeklagt werden. Da muss natürlich jeder Verantwortliche, jeder Umweltminister sorgfältig prüfen, ob er so etwas erfolgreich durchsetzen kann, sonst gibt es ganz schnell Schadensersatzforderungen in ungeheurer Höhe. Vor diesem Hintergrund verstehe ich, dass jeder auf der sicheren Seite sein möchte und deshalb gibt es den wissenschaftlichen Klärungsbedarf.

Der ohne politischen Willen zahnlos bleibt.

Der Wille ist da, so habe ich Herrn Gabriel auch verstanden. Ich finde, dass das eine sehr spektakuläre Erkenntnis ist, die hier vorgelegt wurde. Ich habe das Papier vorliegen. Die Eindeutigkeit, mit der der Zusammenhang zwischen Wohnort und Risiko einer Erkrankung festgestellt worden ist, ist schon deutlich. Da kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Sondern?

Dann muss man umgehend handeln und nicht lange über Laufzeiten verhandeln. Dann heißt die Forderung Stilllegung.