Gefingerte Musik

Improvisation: Nathan Fuhr führte mit einem Dutzend Musikern John Zorns Game Piece „Berlin Cobra“ auf

VON TOBIAS RAPP

Es gab mal eine Zeit, da war der New Yorker Jazz-Avantgardist John Zorn ein richtiger Star. In den späten Achtzigern, frühen Neunzigern war das, als er seine Jazz-trifft-Hardcore-Band Naked City hatte und seine rasenden Collagen wie „Spillane“ einspielte, die sich anhörten, als würden er und seine Mitmusiker den Stil mit der Fernbedienung wechseln. Selbst seine sogenannten Game Pieces brachten es im Windschatten der Popularität von Zorns anderen Projekten zu einiger Beliebtheit – was einem am Freitagabend in den Sophiensælen wie eine Erinnerung an lange verblichene Zeiten vorkam. Zu den 13 Musikern, die das Game Piece „Berlin Cobra“ aufführten, gesellten sich ungefähr genauso viele Zuschauer, Fotografen und Berichterstatter eingeschlossen. Das war nicht schön. Zumal die Kunstform des Game Piece seit den Achtzigern nichts an Reiz eingebüßt hat.

Ein Game Piece ist keine herkömmliche Komposition, es ist ihren eigenen Reim ein System aus Improvisationsanweisungen. Normale Kompositionen geben Noten vor, die die Musiker spielen, um die Musik zu Gehör zu bringen. Und Musiker in normalen Improvisationen nehmen solche Kompositionen zum Anlass, sich ihren eigenen Reim auf diese Vorgaben zu machen. Ein Game Piece funktioniert wie eine Sprache: eine Kombination verschiedenfarbige Schilder mit Buchstaben drauf, Hüte, Mützen, Armbänder und Handzeichen regelt die Kommunikation der Musiker. Diese Regeln sind die Komposition. Das, was man damit anstellt, wird ausgehandelt, während man spielt. Andere Vorgaben gibt es nämlich nicht.

Wenn man will, kann man darin den Versuch demokratischen Musizierens sehen – das Interessante ist aber etwas ganz anderes: Ist man dabei, schaut man der Musik beim Entstehen zu. Da pfeift einer der Musiker zu Beginn etwas, fasst sich an sein Ohr, hebt ein paar Finger, andere Musiker melden sich, und schon ist man mittendrin. Grob wird das alles von Nathan Fuhr gesteuert, dem Dirigenten des Ganzen, der einen Tisch mit Schildern vor sich liegen hat. Im Grunde organisiert sich der Organismus „Cobra Berlin“ aber selbst. Die Musiker sitzen im Kreis und schauen sich an, jemand hört was, möchte etwas hinzufügen, meldet dies an, macht es, möchte ein Duett spielen, meldet es an, los geht es. Dann setzt sich jemand eine Mütze auf, was bedeutet, dass er oder sie für den Augenblick die Leitung übernimmt, mit Fingerzeichen wird ausgehandelt, wer jetzt mit wem spielt.

Auf Platte möchte man das nicht hören, wenn man danebensitzt, ist es großartig. Auch weil sich bestimmte Klangerlebnisse gar nicht reproduzieren lassen – wenn der Saxofonist ein Rückkopplungsduett mit seinem Verstärker spielt etwa und der Rest der Gruppe reihum im Kreis rasend schnell Einzeltöne beisteuert, wobei sich jeder Musiker immer auf den jeweils vorhergehenden Ton des Kollegen neben ihm bezieht. Oder wenn ein Perkussionist anfängt, mit zwei Bohrmaschinen ein Duett mit dem anderen Saxofonisten zu spielen.

Fuhr ist Anfang dreißig, wenn man ihn so sieht mit seinem akkuraten Haarschnitt und in seinem leicht fernöstlich anmutenden Gewand, kommt er einem vor wie eine ziemlich einmalige Mischung aus Straight-edge-Kid und Meditationslehrer. John Zorn selbst hat ihm in New York die Kunst der Game Piece beigebracht. Anders kann man sie nicht lernen, denn Zorn lehnt es ab, die Regeln zu veröffentlichen. Es sei wichtig, die Regeln den jeweiligen Musikern immer wieder neu anzupassen, hat er einmal in einem Interview gesagt. Tatsächlich hat Fuhrs expressiver Dirigierstil, bei dem er mit fliegendem Gewand hinter seinem Tisch auf- und abspringt, auch nur wenig von der Zorn’schen Coolness. Es ist die siebte Cobra-Session, die Fuhr mit einer losen Gruppe von Berliner Musikern organisiert.

So steht man dann in der Pause etwas schüchtern und neugierig an den Plätzen der Musiker und wirft einen Blick auf die Partitur: Die Zettel mit den Anweisungen für die Musiker liegen auf dem Fußboden. Aber aus den Schema, das die verschiedenen Farben den verschiedenen Teilen des Gesichts zuordnet und diese wiederum mit Buchstaben belegt, lässt sich beim besten Willen keine Musik herauslesen. Es sind nur die Regeln. Damit man etwas hört, muss mit ihnen gespielt werden.