GEHEN ODER STEHEN?
: Abgehängt

Ich komme mir, ehrlich gesagt, ziemlich verarscht vor

Vor Kurzem haben sie die Schaltungen verändert. Von Norden nach Süden reicht es, sofern man nicht trödelt. Aber wenn ich die Frankfurter Allee an der Samariterstraße in die entgegengesetzte Richtung überqueren möchte, komme ich, selbst wenn ich jogge, nur noch bis zum Mittelstreifen. Die Ampel für den zweiten Abschnitt steht dann längst auf Rot.

Normalerweise warte ich trotzdem nicht bis zur nächsten Grünphase. Es sei denn, mich könnten Kinder beobachten. Bevor ich Vater wurde, hat auch das mich nicht abgehalten. Im Gegenteil: In meiner Sturm-und-Drang-Phase habe ich Signale an Kreuzungen besonders gerne dann ignoriert, wenn Eltern mit ihrem noch zu erziehenden Nachwuchs zugegen waren. Warum, habe ich mir eigentlich nie wirklich überzeugend beantwortet. Es hatte wohl in erster Linie mit Provokation zu tun. Wenn mir schon der Mut fehlte, bei der revolutionären 1.-Mai-Demo Böller oder Steine zu werfen, so wollte ich wenigstens hin und wieder ein paar Mamas und Papas ärgern. Heute bin ich eher derjenige, der von Kinderlosen geärgert wird. Von mir geht keine Gefahr mehr aus.

So halte ich diesmal auch brav auf dem Mittelstreifen, da es nach mir noch eine Mutter mit ihrer Tochter (etwa zwei) und dem Sohn (etwa fünf) bis zur Mitte geschafft hat. Als sie den Bordstein, an dem ich warte, erreichen, lächle ich in ihre Richtung. Vielleicht versteht sie, dass ich das alles nur für sie tue. Doch sie hat keine Augen für mich. „Los, Laurens! Schnell!“ Sie packt ihren Jungen an der Hand, gibt mit der anderen ihrem Kinderwagen einen Stoß und sprintet über die Straße. „Mama, warum bleibt der Mann stehen?“, höre ich den Steppke rufen. Die Antwort verschluckt der Lärm der anfahrenden Autos. Zu spät, um den drei Delinquenten nachzusetzen. Ich komme mir, ehrlich gesagt, ziemlich verarscht vor.

STEPHAN SERIN