Das Netz schult nicht

LERNEN 2.0 Alle Welt will PCs und Tablets in Klassenzimmer stellen. Nur geht lebendiges und persönlich bedeutsames Lernen anders

■ Der Web-2.0-Berater Martin Lindner schrieb letzte Woche über die Unmöglichkeit, dass die alte Schule à la „Feuerzangenbowle“ den Herausforderungen des Netzes gerecht werden kann. Das Buch und seine Lehrmethoden verdunsten im digitalen Klimawandel, so Lindner. tiny.cc/Klimawandel

■ Stefan Padberg ist anderer Meinung – weil die Web-2.0-Tools eine didaktische Verarmung der Schule mit sich bringen. Padberg ist Professor für Didaktik der Geographie an der Uni Duisburg. Er war vorher selbst Lehrer einer Gesamtschule und promovierte über den „Einsatz des Internets im Geographieunterricht“ (2009).

VON STEFAN PADBERG

Je mehr, desto besser. So schallt es aus der Berichterstattung in der Presse und den didaktischen Zeitschriften, wenn es ums Web-2.0-Lernen geht. Ein Hype, genau wie einst mit dem Computer als solchen. Doch mit einem Bleistift und einem Stück Kreide kann genauso Wichtiges gelehrt werden wie mit Tablet-PC oder Wikipedia. Der Diskurs geht jedoch in eine andere Richtung. Er rechtfertigt immense Investitionen an Geld und Zeit in die technische Aufrüstung der Schulen – und lenkt ab von notwendigen Fragen, wie alltäglicher Unterricht nachhaltig weiterentwickelt werden kann. Die Debatte geht um nichts weniger als um die Frage: Engagieren wir uns eher für Maschinen (Hard- und Software) – oder für Menschen (SchülerInnen und LehrerInnen)?

Die Web-2.0-Mär

Die gängige Argumentation zum Web 2.0 hört sich in etwa so an: Die digitale Revolution hat alles erfasst. Schule kann nicht wie Diogenes in der Tonne hocken bleiben! Diese Herausforderungen kann nur meistern, wer darin geschult wird, was im Web 2.0 geschehen muss. Dazu braucht es Schlüsselqualifikationen, deren Aneignung durch das Web 2.0 geprägt sein wird. Web 2.0 aktualisiert Lerngegenstände, erhöht die Anschaulichkeit und individualisiert das Lerntempo bei gleichzeitiger Steigerung der Überprüfbarkeit. SchülerInnen werden zur Kooperation sowohl im Klassenzimmer als auch mit Altersgenossen global motiviert. Es entstehen neue Netzwerke und an Stelle der Vermittlung von Wahrheiten tritt die gemeinsame Erkundung der Welt. Methodische Kompetenzen werden dabei immer wichtiger.

Als Erdkundelehrer und Geografiedidaktiker weiß ich, wovon ich rede: Gerade unser Fach könne ungemein von Web 2.0 profitieren, heißt es – wie wahrscheinlich manch andere Fach auch. Und da Kinder und Jugendliche webfähige Geräte in Gestalt von Smartphones und Tablets selbst in die Klasse tragen, ist das Problem der technischen Infrastruktur gelöst.

Kaum eine Lehrperson kann selbstbewusst sagen: „In meinem Unterricht komme ich ohne das alles aus.“ Das muss als herrschender Diskurs bezeichnet werden. Doch im Klassenzimmer sieht es anders aus: Der Einsatz vom Web 2.0 ist kein Alltag und oft wird lediglich mehr oder weniger angeleitet im Netz recherchiert. Warum ist das so? Wie ist das zu bewerten? Was wären die Alternativen?

Je 30 junge Menschen, 45 Minuten, 25-mal oder öfter die Woche, Jahrgangsvergleichstests, Zentralabitur, LehrerInnenbashing und vieles mehr sind Rahmenbedingungen unterrichtlicher Arbeit. Genauso wahr ist: Langweiliger, persönlich sowohl der Lehrperson als auch den Schülern unbedeutender Unterricht ist Alltag.

Es geht aber auch anders.

Guter Unterricht wird von der Beziehung zwischen SchülerInnen und Lehrperson getragen. Dazu braucht es die Möglichkeit eines gegenseitigen Kennenlernens. Nur so kann schülerInnenorientierter Unterricht gelingen. Als Lehrperson kann ich erst dann Inhalte auswählen und Perspektiven anbieten, die mir und den SchülerInnen im Idealfall Freude, auf jeden Fall aber Engagement an der gemeinsamen Sache eröffnen. Die ausgewählten Inhalte formuliere ich als Thema für die unterrichtliche Interaktion und leite diesen mit wechselnden Sozialformen (Einzel-, Partner-, Kleingruppenarbeit, Plenum) und geeigneten Methoden an. Kriterium ist, was dem Lernprozess am besten dienlich ist. SchülerInnen sind bei der Unterrichtsplanung je nach ihrer individuellen und kollektiven Entwicklung beteiligt. Der Grad der Freiwilligkeit ihrer Arbeit steigt – bis an die Grenzen dessen, was die Selektionsinstitution Schule zulässt. Störungen gehören zum Unterricht. Mit dem Ziel, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen, weiß die Lehrperson, was zu tun ist. Das reicht von der Frischluft- und Bewegungspause bis zur Klassenkonferenz.

Und: In vielen Fächern braucht es auch Medien. Dabei gilt: Was ist für die Erarbeitung der Unterrichtsgegenstände am besten? Die wichtigsten Medien bleiben die Menschen im Klassenzimmer selber, ihre Stimme, Gestik und Mimik. Ob dann Flipchart, Tafel, Video, Satellitenbild, Karte, Buch, Gespräch in der Zweiergruppe, Umfrage im Rahmen eines Projekts, Skypekonferenz mit dem Mitschüler im Krankenhaus oder die Teilnahme am Chat der Indignados in Madrid gut ist? – Es bleibt beim Primat des Pädagogischen. Die Ziele des Ganzen sind im Blick zu halten: „Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung“ hieß das früher in den Curricula NRWs. Die Medienauswahl ist in einem so verstandenen Lehr-Lern-Arrangement vielem anderen untergeordnet. Sie ist gleichzeitig wichtig und eine Marginalie. Mit einem solchen Unterricht kann sofort begonnen werden.

Seien wir realistisch: Fordern wir das (scheinbar) Unmögliche!

Zwei Lehrer für 15 Schüler

Wenn sich ein solcher Unterricht als Alltag an Schulen (und Hochschulen) etablieren soll, braucht es einen bildungspolitisch langen Atem. Dazu gehört eine Lehramtsausbildung, in der Wissen über Lernen in exemplarischen Lehr-Lern-Arrangements erlebbar ist und in einer Kultur der Wertschätzung reflektiert wird. Dabei wird das Einbeziehen der Entwicklung der eigenen Lehrperson in die Ausbildung selbstverständlich unterstützt durch verbindliche Beratungsgruppen und Supervision. Schulklassen bestehen aus nicht mehr als 15 SchülerInnen. Das gibt mir als Lehrperson die Chancen, alle zu kennen und individuell zu fördern.

Doppelbesetzungen mit zwei Lehrpersonen werden Normalfall. Es braucht rund viermal so viele Lehrpersonen und doppelt so viele Klassenräume wie zurzeit. Unterricht qualitätsvoll zu planen und zu reflektieren kostet Zeit. Mehr als rund 15 Schulstunden sollte eine volle Lehrerstelle nicht ausmachen. LehrerInnen brauchen ein niederschwelliges Supervisonsangebot, das zur Arbeitszeit dazugehört. Das heißt, sie müssen die vielfältigen Störungen des Lernens professionell zu reflektieren lernen. Nur so können sie ihre Handlungsmöglichkeiten systematisch erweitern.

Utopische Forderungen? In der Tat: Der „pädagogische“ Wind der Bildungsdebatte bläst eher in Richtung Outputfixierung und technische „Lösungen“ wie Web 2.0. Wir können aber davon ausgehen, dass Tablet-PCs und Web 2.0 allein schlechten Unterricht nicht nachhaltig zu verbessern in der Lage sind.