Das Geheimnis der Erlösung

THEATER Krass in seiner Gegenwärtigkeit, packend in der mythischen Wucht: Das Bürgerkriegsdrama „Verbrennungen“ des Dramatikers Wajdi Mouawad in der Volksbühne steht in der Tradition antiker Tragödien

Als Nawal stirbt, treten ihre zwei Kinder eine Reise in ihre Heimat im Nahen Osten an. Damit beginnt ein verheerender Kreislauf von Verbrechen und Rache. Obwohl in „Verbrennungen“ historische Fakten aus dem Libanon auftauchen, scheint es, als spiele für Autor Wajdi Mouawad keine Rolle, wer das letzte Glied von Verbrechen dazugesetzt hat. Die Grundfrage lautet: Wie ausbrechen aus dem fortgesetzten Kreislauf von Schuld und Sühne?

■ „Verbrennungen“: Volksbühne/3. Stock, Rosa-Luxemburg-Platz, Premiere: 26. 3., 20 Uhr. Weitere Termine am 28. 3., 20 Uhr, sowie im April, 15/7,5 €

VON ESTHER SLEVOGT

Jetzt ist die Mutter tot. Jahre vorher schon hatte sie aufgehört zu sprechen, lebte stumm, offenbar schwer traumatisiert, mit ihren beiden Kindern, den Zwillingen Jeanne und Simon. Eines Tages fiel Nawal Marwan bei einem Schwimmbadbesuch ganz in Agonie. Kurz darauf starb sie.

Erst am Ende wird man den Grund für den Schock erfahren, der sie endgültig das Leben kostete. Ein Leben, das sie schon lange zuvor verloren hatte. Ihre Zwillinge, zum Zeitpunkt ihres Todes 22 alt, sitzen nun zur Testamentseröffnung beim Notar, der auch der Arbeitgeber ihrer Mutter war. Der letzte Wille der Mutter schickt sie auf eine Reise durch die Zeit und durch die Familiengeschichte, die auch zur Reise durch die Hölle wird, die das Leben der Mutter war. Doch es ist auch eine Reise zur Wahrheit, die das Geheimnis der Erlösung birgt.

Die Reise führt die Geschwister aus Frankreich in den Nahen Osten. Jeanne soll dort den totgeglaubten Vater, Simon den Bruder finden, von dem sie bisher nichts wussten. Die Entdeckung wird schockartig. Doch bis dahin rollt sich eine Tragödie antiken Ausmaßes vor unseren Augen auf: eine umgekehrte Ödipusgeschichte, die gleichzeitig die Geschichte einer Gewaltspirale erzählt, die sich brutal durch die Generationen einer Familie ebenso gräbt wie durch die Geschichte des unbenannten, von einem blutigen Religionskrieg zerrissenen Landes.

Biografie als Folie

Es eine Geschichte, die heute, gestern und morgen spielen könnte. Krass in ihrer Gegenwärtigkeit, packend in der mythischen Wucht, mit welcher der kanadische Dramatiker Wajdi Mouawad sein Bürgerkriegs- und Flüchtlingsdrama in die Tradition antiker Tragödien stellt.

Sein Stück „Verbrennungen“ machte den 1968 geborenen Mouawad 2003 mit einem Schlag weltberühmt. Es erzählt eine Geschichte, die auch vor der Folie der Biografie ihres Autors entstand: 1976, im Alter von acht Jahren, kam Wajdi Mouawad aus dem Libanon nach Frankreich, wohin seine christliche Familie vor dem im Jahr zuvor ausgebrochenen blutigen Bürgerkrieg zwischen arabisch-islamischen Nationalisten und prowestlichen Christen geflohen war. 1983 ließ die Familie sich im kanadischen Quebec nieder. In Frankreich war ihr das Bleiberecht verweigert worden und eine Abschiebung in den Libanon drohte. Dort hatte der Bürgerkrieg kurz zuvor mit dem Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila südlich von Beirut eine neue Eskalationsstufe erreicht.

In die Abgründe eines blutigen und endlosen Bürgerkriegs führt auch die Geschichte, die von Nawal Marwans Zwillingen Jeanne und Simon in Mouawads Stück „Verbrennungen“ Stück für Stück aufgedeckt wird. Es ist eine tragische Familiengeschichte, ein dramatisches wie tragisches Frauenschicksal. Es ist aber auch die Geschichte des optimistischen Aufbruchs der jungen Nawal aus der Enge ihrer Dorfgemeinschaft in ein besseres, selbstbestimmtes Leben.

Und die Geschichte einer Frau, die selbst nach schlimmster Folter und großer Traumatisierung noch an die Möglichkeit glaubt, die Gewaltspirale durchbrechen zu können: denn darin besteht der tiefere Sinn des testamentarischen Auftrags an ihre Kinder, die während einer insgesamt 13-jährigen Haft ihrer Mutter in einem berüchtigten Gefängnis geboren wurden. Dort nannte man die Mutter, die auch von der Folter lange nicht zu brechen war, „Die Frau, die singt“. Mehr kann aber hier nicht verraten werden, ohne dass man zum Verräter am luzide gebauten Plot des Dramas wird, der aufs Ewige zielt (und auch trifft).

1976 kam Wajdi Mouawad aus dem Libanon nach Frankreich, wohin seine christliche Familie vor dem blutigen Bürgerkrieg geflohen war

Es ist erkennbar im bürgerkriegszerrissenen Libanon verortet, könnte aber heute genauso gut im Irak oder in Syrien spielen. Oder irgendwo sonst, wo ein (im westlichen Sinne) aufgeklärtes Denken auf religiösen Fundamentalismus trifft, der speziell in freien, selbstbestimmten Frauen eine Bedrohung sieht.

Uraufführung im Jahr 2003

2003 wurde „Verbrennungen“ unter seinem Originaltitel „Incendies“ in Montreal uraufgeführt. Es gibt eine französische Verfilmung, die 2010 eine Oscar-Nominierung erhielt. Auch hierzulande ist „Verbrennungen“ seit der deutschsprachigen Erstaufführung 2006 in Göttingen zu einem viel gespielten Stück geworden. Auch große Häuser wie das Wiener Burgtheater und das Berliner Deutsche Theater haben oder hatten es im Programm. Nun kommt es im Dritten Stock der Volksbühne heraus.

Inszeniert wird „Verbrennungen“ von Carolin Mylord, die Schauspielerin, Regisseurin und ausgebildete Tänzerin ist. Sie interessiert sich für das Gleichnishafte, den Ewigkeitswert des Stücks, das von Fragen lebt, welche die Dramatik schon seit ein paar Jahrtausenden beschäftigen, in der „Orestie“ des Aischylos zum Beispiel: Wie kann man ausbrechen aus dem von Generation zu Generation fortgesetzten Kreislauf von Schuld und Sühne? Wo ist Rettung zu finden?