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Archiv-Artikel

Geboren wird nimmer

LEBEN Kliniken auf dem Land schließen ihre Geburtsstationen. Weil es zu wenig neue Babys gibt, weil Ärzte fehlen. Und weil Entbindungen teuer sind. Kann man Kinder bald nur noch in Großstädten bekommen?

661.138

Frauen haben 2013 in Kliniken entbunden Quelle: Deutsche Krankenhausgesellschaft

38,7

Prozent aller Geburtsstationen in Deutschland wurden zwischen 2000 und 2013 geschlossen Quelle: Deutsche Krankenhausgesellschaft

1,6

Prozent deutscher Gemeinden weisen eine Fahrzeit von mehr als 30 Minuten zu einer Klinik mit Grundversorgung auf. Bei 60 Prozent sind es 15 Minuten Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

50

Prozent aller Landärzte, die ihre Praxis aufgeben, finden keine Nachfolgerinnen Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

39,1

Prozent der niedergelassenen Ärzte in Deutschland sind zwischen 50 und 59 Jahren alt. Zwischen 35 und 39 sind nur 3,3 Prozent Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

98,8

Kilometer fahren Patientinnen von der Hallig Hooge in Nordfriesland zu einem Krankenhaus mit Grundversorgung. So weit wie nirgends Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

ANNE FROMM (TEXT) UND ERIK-JAN OUWERKERK (FOTOS)

Eigentlich sind alle dafür, dass in Bad Belzig weiter geboren wird. Die Bürgermeisterin will es, das Stadtparlament, der Kreistag – selbst der deutsche Außenminister hat sich dafür eingesetzt. Trotzdem dürfte der 31. März des Jahres 2015 der letzte Tag werden, an dem in der Stadt in Brandenburg ein Kind im Krankenhaus auf die Welt kommen kann.

An einem der letzten Januartage tritt der Geschäftsführer des Klinikums Ernst von Bergmann in Bad Belzig vor die Presse. Er sehe keine andere Möglichkeit, als die Geburtsstation einzustellen, sagt Steffen Grebner, 50 Jahre alt, ein Mann der Zahlen. Er trägt einen graublauen Anzug, dazu eine gestreifte Krawatte. Vor ihm steht eine Plastikwasserflasche, hinter ihm ein Kaffeespender. Neben ihm sitzt die Gynäkologin der Klinik und die Gesundheitsministerin von Brandenburg.

Die Gynäkologin sagt, sie sei stolz auf ihre kleine, familiäre Geburtshilfe. Von einer „hochemotionalen Entscheidung“ wird die Lokalzeitung berichten. Die Ärztin hat viele Belziger zur Welt gebracht. Sie hat Tränen in den Augen, steht in der Zeitung.

Die nächste Geburtsstation ist knapp 40 Kilometer entfernt, in Brandenburg an der Havel. 45 Autominuten. So weit müssen Schwangere fast nirgends zur Entbindung fahren.

Jede dritte Geburtsstation musste in den vergangenen 13 Jahren in Deutschland schließen. Gab es im Jahr 2000 noch 670 Stationen, waren es 2013 nur noch 411. Als die einzige Entbindungsstation auf der Insel Sylt Anfang 2014 verschwand, machte das bundesweit Schlagzeilen. Es geht um die Frage, wie sich Krankenhäuser darauf einstellen, dass die Leute immer älter und viele Regionen immer leerer werden. Es geht darum, ob Menschen auf dem Land das gleiche Recht auf Versorgung haben, wie Menschen in der Stadt. Und darum, wie viel das kosten darf.

Man könnte auch sagen: In Bad Belzig wird um die Zukunft des ländlichen Deutschlands gerungen. Wie soll sie aussehen?

Geburtshilfe müsse zentralisiert werden, sagen die Kliniken. Die Bad Belziger sagen: Geburtshilfe gehört zur Grundversorgung. Sie organisieren Demonstrationen gegen die Schließung der Station und warnen, Mütter und Babys könnten auf dem Weg ins nächste Krankenhaus sterben. Von Personalmangel und Sachzwängen wollen sie nichts hören. Was sind kalte Zahlen gegen Babys? Und verspricht das Leitbild der Klinik nicht eine „umfassende medizinische und pflegerische Versorgung“? Und zwar: „über alle Lebensabschnitte hinweg“. Künftig fehlt dann halt nur der Anfang?

Die Neugeborenen klicken sich ordentlich

Bad Belzig liegt nahe der Grenzen zu Sachsen-Anhalt. Es ist der Wahlkreis von Frank-Walter Steinmeier. 11.000 Menschen leben hier. Es gibt eine Burg, ein 3-D-Kino, eine Therme und eine Schlittschuhbahn. Die Karl-Marx-Straße führt vom Bahnhof ins Zentrum, danach die Clara-Zetkin, Ernst-Thälmann, Karl-Liebknecht. Die Sozialisten von einst hätten ihre Freude an dem Stück, das gerade gespielt wird: Bad Belzig gegen die Großkapitalisten der Klinik. So sieht das der örtliche Kinderarzt.

Als Schurke in dem Schauspiel würde sich der Geschäftsführer des Krankenhauses eignen. Er ist die personalisierte Ökonomisierung. Am Uniklinikum in Hamburg hat Steffen Grebner die Abteilung Betrieb und Logistik geleitet und war Geschäftsführer der klinikeigenen Consultingfirma UCM. Der Aufsichtsrat des Ernst von Bergmann holte ihn 2007 nach Potsdam ans Mutterhaus, damit er die Klinik profitabel macht. Er sollte das Krankenhaus, dessen Ableger in Bad Belzig erst später dazukam, in einen Gesundheitspark nach amerikanischem Vorbild umbauen, steht in der Abschiedsmitteilung seiner alten Consultingfirma. Ins neue Haus hat er sich eine Beraterfirma namens Visality geholt.

Grebner will mit der taz.am wochenende nicht sprechen. Also redet Damaris Hunsmann, die Sprecherin der Klinik. Sie hat in Potsdam an einem ovalen Tisch Platz genommen, Jeans, karierte Bluse. Blauer Teppich. Hier werden die Entscheidungen über Bad Belzig gefällt.

Die Klinikleitung habe sich die Sache nicht leicht gemacht, sagt Hunsmann. Sie ist Betriebswirtschaftlerin und spricht mit der kaum merklichen Gereiztheit von einer, die alles schon oft erklärt hat. Hunsmann weiß natürlich: Mit einer Babygalerie kann man seinen Onlineauftritt schmücken. Der meistgeklickte YouTube-Beitrag des Klinikums Ernst von Bergmann zeigt die Neugeborenenstation. In Potsdam. Fühlt sich eine Schwangere im Kreißsaal außerdem gut aufgehoben, kommt sie zur nächsten Knie-OP gern wieder.

Man habe ja versucht, Fachärzte zu kriegen, sagt Hunsmann. Doch spätestens kurz vor Arbeitsbeginn hätten auch die Interessiertesten abgesagt. Gynäkologen fehlen überall im Land. Die wenigen, die es gibt, gehen an die großen Häuser mit mehr Patienten, mehr Operationen in aufregenderen Städten.

Da wird die Sache kompliziert. Nach dem Schurken betritt das Schicksal die Bühne. Nach außen argumentiert die Klinik nicht ökonomisch – sondern beklagt vor allem den Personalmangel.

185 Kinder sind im vergangenen Jahr in Bad Belzig zur Welt gekommen, alle zwei Tage eins, rein statistisch betrachtet. Trotzdem müssen rund um die Uhr ein Gynäkologe und eine Hebamme da sein. Gibt es Probleme mit einem Neugeborenen, wird es nach Potsdam oder Brandenburg verlegt, im Rettungswagen mit Inkubator. Wenn alles gutgeht, braucht er eine halbe Stunde bis Bad Belzig und noch mal so lange zurück ins Klinikum.

Seit 2013 ist die Stadt Potsdam Eigentümerin der Belziger Klinik. In den Jahren zuvor hatte der evangelische Johanniterorden damit mehr als 2,5 Millionen Verlust geschrieben. Das Krankenhaus stand kurz vor der Insolvenz. Potsdam kaufte drei Viertel, der Landkreis Potsdam-Mittelmark eines. Die Gesundheitsministerin der Linken freute sich. Heute muss ihre Nachfolgerin zusehen, wie die Geburtsstation geschlossen wird.

Damit schaffe man Platz für noch mehr Rollstühle, sagt Hannelore Klabunde-Quast, die Bürgermeisterin von Bad Belzig. Sie kam vor 63 Jahren in Bad Belzig auf die Welt. Ihre Kinder hat sie hier entbunden. Sie glaubt, dass die Klinikleitung das Haus langfristig in ein Altenheim umbauen wolle. Was 2013 geschah, interpretiert sie als einen Hinweis: Für Menschen in Pflegeheimen eröffnete der Geschäftsführer in Bad Belzig Brandenburgs erstes Wund- und Dekubituszentrum zur Behandlung chronischer Wunden und Geschwüre, etwa bei Bettlägrigen. Damit, verkündete er, wolle er die „Umkehr in die Wirtschaftlichkeit“ schaffen.

Laut Deutscher Krankenhausgesellschaft sind 58 Prozent der Geburtsstationen in Deutschland defizitär, auf dem Land bis zu 75 Prozent. Andere Stationen finanzieren sie mit, etwa die onkologischen, orthopädischen oder geriatrischen. Mit denen verdienen viele Kliniken das meiste Geld. Alte Leute gibt es genug, vor allem im Westen Brandenburgs. Die Landesregierung hatte 2013 beschlossen, Kinderbetten ab – und geriatrische Betten aufzubauen.

„Dit ging nich mehr jut“, sagt die Hebamme

Vor zwei Wochen bekam die Bürgermeisterin einen Brief von einer Fünftklässlerin: „Ich hoffe sehr, dass die Geburtsstation erhalten bleibt, damit ich mein Kind in Bad Belzig bekommen kann (natürlich erst später :-) ).“

In Bad Belzig passiert dasselbe wie in vielen ländlichen Gegenden: Landärzte finden niemanden, der ihre Praxis übernimmt, Kliniken keine Angestellten. Einige werben um Fachärzte aus dem Ausland, andere arbeiten mit Zeitarbeitsfirmen. Beides habe die Klinik versucht, sagt Sprecherin – auch zum Nachteil der Hebammen. Denn Honorarärzte kommen nur für ihre Schicht, kennen das Haus nicht und die Kollegen. In den vergangenen Monaten gab es zeitweise nur eine festangestellte Gynäkologin auf der Station. Es gibt Mitarbeiter auf der Entbindungsstation, die vor Dienstantritt gebetet haben, dass in ihrer Schicht kein Kind zur Welt kommt. Zu groß die Angst, dass im Notfall kein Arzt greifbar sein könnte. Deswegen haben die Hebammen im Herbst gekündigt.

Anfang März, vier Wochen vor der Schließung, ist es ruhig auf der Entbindungsstation. Von der Decke baumelt ein Storch aus Stoff, der Gipsabdruck eines schwangeren Bauchs hängt an einer der gelben Wände. Andrea Hennig hat heute Schicht, zwölf Stunden. „Dit ging nich mehr jut“, sagt sie über die vergangenen Monate. Vor 27 Jahren wurde sie in der Klinik zur Hebamme ausgebildet. Bis vor fünf Jahren war sie festangestellt, dann hat die Klinik den Vertrag gekündigt. Festangestellte Hebammen sind teuer.

Die Klinik hat Hennig als Freiberuflerin wieder angestellt: Gleicher Arbeitsplatz, gleiche Aufgabe, andere Konditionen. Hennig führt jetzt mit vier Kolleginnen eine Hebammengemeinschaft, die die Dienste auf der Station übernimmt und nebenbei eine eigenen Praxis betreiben: Vorsorge, Nachsorge, Babyschwimmen und Rückbildungskurse. Sie sind so etwas wie eine kleine GmbH. Viele Kliniken in Deutschland arbeiten mit solchen Modellen oder mit Beleghebammen, die nur für bestimmte Entbindungen an die Klinik kommen.

Hennig sitzt im Beratungsraum zwischen den beiden Kreißsälen der Klinik. Es kann sein, dass sie heute noch einem Kind auf die Welt hilft. Eine Frau ist über den Termin, eine andere kurz davor. Hennig wartet.

An der Wand hängt eine Telefonliste mit Nummern, die sie anrufen kann, wenn es im Kreißsaal brenzlig wird: Anästhesist, Chirurg, OP-Pflege. Es passiert nicht oft, dass sie deren Hilfe braucht. Wenn aber doch, geht es um Minuten.

Drei von Hennigs Kolleginnen gehen Ende März. Über den Berliner Hebammenverband hat sie versucht, Nachfolgerinnen anzuwerben. Es hat sich niemand gemeldet. Auch das Klinikum schaltete eine Anzeige in der Lokalpresse. Keine Reaktion.

Es würde in dieser Tragödie jetzt noch ein Held fehlen, der das Schicksal abwendet.

Livia Mierisch ist im achten Monat schwanger. Ihr Kind soll am 26. April zur Welt kommen. Dann wird es wohl keine Geburtsstation mehr geben. Drei Kinder hat sie geboren, das letzte in Bad Belzig. Sie mochte die familiäre Atmosphäre.

Vor acht Jahren ist sie mit ihrem Mann von Dresden nach Bad Belzig gezogen. Sie betreiben eine Tanzschule, HipHop für Kinder, Hochzeitstanz und Zumba. Acht Wochen vor der Entbindung sitzt sie nun im Tanzsaal und streichelt ihren Bauch. Bis vor Kurzem hat sie von der kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt, profitiert: Die weiten Blusen und elastischen Hosen hat sie von den Frauen im Ort bekommen, die kurz vor ihr entbunden haben. Auch die Babyklamotten.

Viele Abende hat sie jetzt mit ihrem Mann am Küchentisch diskutiert: Sollen sie zwei Wochen vorher nach Potsdam in ein Zimmer ziehen, das die Klinik gratis anbietet? Oder doch besser den langen Weg in die nächste Klinik fahren, wenn die Wehen einsetzen? Was, wenn die Tochter auf der Landstraße kommt? Die Klinik hat einen Lehrgang veranstaltet, um die Rettungssanitäter auf solche Fälle vorzubereiten.

Das wird nicht reichen, sagt Burkhard Kroll. Er ist der Kinderarzt von Bad Belzig, hat selbst fünf Kinder und eine eigene Praxis. Zwei Jahre war er festangestellt an der Klinik, später Bereitschaftsarzt. Er sitzt an seinem Schreibtisch, auf der weiten Tapete hinter ihm ist die Erde zu sehen – vom Weltraum aus. Über seinem Kopf baumeln Flugzeuge und ein Polizeiblaulicht.

„Ohne die Geburtsstation wird Entbinden hier gefährlich“, sagt Kroll. Er ist das mal durchgegangen: Hätte es im vergangenen Jahr keine Geburtsstation in Bad Belzig gegeben, wären drei der 185 geborenen Babys auf der Autobahn geboren, eine Frau wäre mit einer Plazentaablösung ein schwerer Notfall gewesen und womöglich im Rettungswagen gestorben.

Kroll hält das Argument der Klinik, es gebe nicht genug Fachkräfte, für vorgeschoben. Als bekannt wurde, dass die Klinik die Geburtsstation schließen will, haben er und andere Bürger ein Bündnis zusammengerufen. Eine Facebookgruppe wurde gegründet. 500 Leute zogen durch Bad Belzig. Kinder, Eltern, Alte.

Die Belziger haben Angst, zu verschwinden. Ausgedünnt, eingemeindet, geschluckt von großen Städten wie Potsdam und dem 90 Kilometer entfernten Berlin. Der Kampf um ihre Geburtsstation ist auch ein Kampf um Anerkennung für das Leben in einer kleinen Stadt.

Das Bürgerbündnis hat einen Personalplan mit Gynäkologen und Kinderärzten aufgestellt: Kroll erklärte sich bereit, Schichten zu übernehmen, der Chefarzt der Gynäkologie im Nachbarkrankenhaus Brandenburg an der Havel, auch seine Frau. Zusammen, glauben die Mediziner, könnten sie eine Bereitschaftssystem stemmen, 24 Stunden am Tag. Es kommt ihnen vor wie ein Modell, dass das Problem der Belziger Klinik lösen könnte. Und vielleicht nicht nur das.

Die Große Koalition in Berlin arbeitet zurzeit an einer Krankenhausreform. Die SPD-Bundestagsfraktion hat ein Positionspapier ausgearbeitet. Unabhängig davon, wo Patientinnen oder Patienten lebten, wie alt sie seien oder wie schwer erkrankt, hätten sie einen Anspruch, „die für sie notwendige medizinischen und pflegerischen Versorgungsleistungen in zumutbarer Weise erreichen zu können“, steht darin. Nur: Welche Leistungen sind notwendig? Welche Entfernung ist zumutbar?

Karl Lauterbach war lange gesundheitspolitischer Sprecher der SPD. Er ist es nicht mehr, aber er bleibt ihr prominenteste Redner, wenn es um Gesundheit geht. Lauterbach, der mit der Fliege, der runden Brille und dem rheinischen Dialekt, führt die Verhandlungen mit der Union zum neuen Gesetz. Er ist Gesundheitsökonom, ein Rechner, kein Träumer. Er kann hart urteilen. Zwölf Jahre saß er im Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG.

„Geburtshilfe gehört zur Grundversorgung und sollte flächendeckend gewährleistet sein“, sagt Lauterbach.

Klar, Hochrisikogeburten müssten in den Perinatalzentren, den gut ausgestatteten großen Klinken, stattfinden. Ansonsten, stellt Lauterbach fest, sehe er keinen Grund, Geburtsstationen dichtzumachen. „Die aktuelle Versorgungssituation ist gut. Aus finanziellen Gründen noch mehr Entbindungsstationen zu schließen, halte ich für falsch.“ Qualitätsprüfungen zeigten immer wieder, dass Geburten auch in kleinen Häusern größtenteils sicher seien.

Die Belziger haben Angst, dass sie irgendwann verschwinden

Er weiß auch, dass die Geburten dort meist ein Zuschussgeschäft sind. Das neue Gesetz der Großen Koalition sieht vor, dass Krankenkassen Kliniken Zuschläge garantieren, wenn die Geburtenzahlen zu niedrig sind.

Was aber, wenn wie in Bad Belzig, auch das Personal fehlt?

„Brandenburg ist eine Sondersituation“, sagt Lauterbach. Dort mangele es in der Tat an gut ausgebildeten Ärzten. „Allerdings haben andere Regionen in Deutschland kreative Lösungen gefunden: Sie stellen für ihre Mitarbeiter kostenlose Shuttlebusse zur Verfügung, die sie aus den großen Städten einsammeln und in das Krankenhaus bringen – genauso wie Google es in San Francisco macht.“

Mitte Februar kommen Geschäftsführer Grebner, die Hebammen, die Bürgermeisterin, der Kinderarzt und einige Bürger an einem runden Tisch zusammen. Grebner sei herablassend aufgetreten, sagen manche, die dabei waren. Er wolle, habe er gesagt, den Kreißsaal nur abschließen – sobald Ärzte und Hebammen gefunden seien, würde der Betrieb weitergehen. Später sei er dann zurückgerudert.

Grebner spricht immer wieder vom „schwedischen Modell“. Er habe selbst sechs Monate in Schweden verbracht und sei beeindruckt von der Zentralisierung: Geburtshilfe nur in großen Städten. In Schweden allerdings lebten 90 Prozent der Bevölkerung in Städten oder dicht besiedelten Gebieten, entgegnete eine Hebammen-Aktivistin später.

Der Landrat der SPD ist dann der Erste, der am runden Tisch auch die Finanzfrage anspricht. Zwei Millionen Euro Defizit habe die Klinik – eine Zahl, die offiziell keiner bestätigen will.

Wie alle stationären Leistungen werden Geburten mit Fallpauschalen abgerechnet. Für eine vaginale Geburt ohne Komplikationen bekommt eine Klinik in Brandenburg von den Krankenkassen gut 1.700 Euro, egal, ob sie zwei oder zwölf Stunden gedauert hat, egal, ob die Mutter einen oder drei Tage im Krankenhaus liegt. Je nachdem, wie die Geburt verläuft, gibt es Zuschläge, prinzipiell aber gilt: Je mehr Kinder zur Welt kommen, desto mehr verdient die Klinik. Experten schätzen, dass sich eine Geburtsstation erst ab etwa 500 Geburten jährlich lohnt. Das Land Brandenburg hat festgelegt, dass auf jeder Geburtsstation mindestens 300 Kinder im Jahr zur Welt kommen sollen. Sind es weniger, wird regelmäßig überprüft, ob die Station weiterarbeiten kann. Bad Belzig steht seit sieben Jahren unter Beobachtung des Ministeriums.

Das Sicherheitsbedürfnis sei gestiegen, sagt Andrea Hennig. Viele Frauen entbinden lieber in einer der umliegenden großen Kliniken mit Kinderarzt. Ärzte wiederum beenden eine Geburt schneller durch Kaiserschnitt, Zange oder Saugglocke. Wenn der Arzt Fehler macht, wenn ein Kind durch seine Schuld körperlich oder geistig behindert oder tot zur Welt kommt, kann das für die Klinik teuer werden.

Dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft zufolge mussten Kliniken und deren Versicherer im Jahr 1998 bei einem schweren Geburtsschaden rund 340.000 Euro – Schmerzensgeld für die Eltern und Pflegekosten für das Kind. 2012 lag die Summe für einen ähnlichen Fall schon bei 2,6 Millionen. Nicht weil Hebammen und Ärzte immer mehr Fehler machen, sondern weil die moderne Medizin es auch schwerkranken Kindern ermöglicht, lange zu leben. Der medizinische Fortschritt macht Geburten also teurer und für Krankenhäuser wirtschaftlich riskanter, zumindest in wenigen seltenen Fällen. Mütter wollen den Fortschritt auch in ihrer Kleinstadt. Das führt aber dazu, dass immer mehr Geburtsstationen schließen, was das Risiko für die Schwangeren wiederum erhöht.

Es ist absurd: Die Versorgung der Frauen verschlechtert sich auch, weil die Versorgung zu gut wird.

„Na, wo bringst du das Kind zur Welt?“, fragen die Leute

Anfang März, drei Wochen vor der geplanten Schließung, treffen sich vier Ärzte aus Bad Belzig mit dem Geschäftsführer Steffen Grebner. Ein Moderator ist auch da. Die Belziger Ärzte wollen Grebner ihren Personalplan vorstellen. Kroll hat einen Honorarvertrag für die kinderärztliche Versorgung ausgearbeitet. Grebner wolle aber gar nicht darüber diskutieren, erzählt Kroll nach dem Treffen. Bei den Ärzten müsse er sich erst von deren fachlicher Qualifikation überzeugen, habe er gesagt. Dafür sollten sie ein halbes Jahr in Potsdam hospitieren – mit einem Honorarvertrag, wie Kroll ihn vorlegt, sei das nicht zu leisten.

Das nächste Treffen sagen Kroll und die anderen Ärzte ab. Mit Grebner könne man nicht verhandeln. Der wolle die Station einfach schließen.

Livia Mierisch wird nun ständig angesprochen, beim Einkaufen, auf dem Marktplatz, im Kindergarten: „Na, wo bringst du das Kind zur Welt?“ Wildfremde erzählen ihr auf der Straße, wo sie ihre Kinder geboren haben. Mierisch hat sich gegen eine Klinik entschieden. Sie wird zu Hause gebären, mit einer Hebamme aus Potsdam.

Anne Fromm, 28, ist tazzwei-Redakteurin. Sie war für die Recherche zum ersten Mal in Bad Belzig

Erik-Jan Ouwerkerk, 55, ist freier Fotograf in Berlin. Den historischen Stadtkern von Bad Belzig hat er schon häufiger fotografiert