UNTERGRUNDFORSCHUNG
: Ozeanische Gefühle

Bald ist Schluss mit dem Anblick nackender Baumkronen

Fünfter Stock. An diesem frühen Abend kommt der Himmel wie die zerkratzte Eisplatte eines Gewässers ohne Tiefgang daher, all die sich kreuzenden Kondensstreifen, und rosarot leuchtet die Sonne vom nahen Grunde.

Draußen auf dem Trottoir stehen 34 leere Bierflaschen vor einem mit Plakatschichten zugepflasterten Stromverteilerkasten, und an der Hobrechtbrücke, die Kreuzberg mit Neukölln verbindet, liegen verwaiste Sonnenfinsternisbrillen am Boden, das Spektakel ist längst vorüber. (Eis kostet jetzt 1,10 Euro die Kiez-Kugel.)

Weiter stadteinwärts, eine in Berlin oft sinnlose navigatorische Angabe, weiter Richtung Hallesches Tor, nennt sich am Landwehrkanal das gut teuer seiende Restaurant Zollhaus seit einiger Zeit „Genussfachwerk“. Gegenüber sich lang machen auf einer Bank, der das Rückteil fehlt, aufs Neue in den Himmel gucken. Der hat jetzt die durchdringend nachtblaue Farbe von Szilla, sie blühen zurzeit im Tiergarten zuhauf, jedes Jahr kommen sie wieder, anmutige Blumen. An der Straße des 17. Juni, dort wo der martialisch anmutende Panzer steht, dort auf der anderen Straßenseite im Wald, haben sie ihren größten Auftritt.

Wehmut im Liegen auf der Bank, weil jetzt, haste nicht gesehen, bald Schluss sein wird mit dem Anblick nackender, sich verästelnder Baumkronen.

Den Gedanken reaktivieren, dass kahle Laubbäume allesamt keine Laubbäume sind, sondern Korallen, und unten am Meeresgrund leben wir Menschen, und der Himmel, das ist der Ozean darüber. Und dass der alte Urfisch Leviathan eben nicht unser Beschützer ist, weil jedes Jahr wieder verrät er uns an diese grüne Hölle, die sich da Sommer nennt.

Zu Hause im Dunkeln ankommen. Ohne Licht zu machen zwei Stiefmütterchen umtopfen, die keine Erde mehr zum Wachsen haben. Alles verwurzelt.

HARRIET WOLFF