Der Charme des Verranzten

Das Stadion des FC St. Pauli wird umgebaut und ein Verlierer dieser Maßnahme ist das alte Clubheim, das ab heute abgerissen wird. Es war eine legendäre Gaststätte, gut für exzessive Feiern und gesegnet mit einer einzigartigen Atmosphäre. Diese soll in das neue Clubheim hinübergerettet werden

Zeugwart Bubke: „Kahn und Effenberg haben sich hier immer wohlgefühlt“

von Ralf Lorenzen

Dass ein Wirt der Vereinsgaststätte vom FC St. Pauli mitunter ungewöhnliche Situationen meistern muss, ist Frank Wiekhorst lange bekannt. Was sich aber am letzten Abend der 46-jährigen Geschichte dieser altehrwürdigen Trinkhalle vor seinen Augen abspielte, konnte selbst er kaum glauben. „Die schleppten einfach die Klotür raus“, ist er noch am nächsten morgen fassungslos. Und mit „die“ meint er nicht den Vortrupp des Abrissunternehmers, der seit Montag bei der Arbeit ist, sondern Gäste der Abschlussparty, die sich ein ganz besonderes Souvenir sichern wollten. Im letzten Moment konnte Wiekhorst diese Fledderei verhindern

Aber auch wer seinen immateriellen Erinnerungsschatz an diese Stätte großer Siege und wüster Gelage noch einmal auffüllen wollte, kam in der Woche des Abschieds voll auf seine Kosten. Weihnachtsfeier der Damen, letzte Champions League-Übertragung, letztes Heimspiel und schließlich die Abrissparty boten reichlich Gelegenheit zur Trauerarbeit.

„Klar, das ist alles marode und es muss etwas Neues her, aber trotzdem ist das alles ganz schön traurig,“ sagt Zeugwart Claus „Bubu“ Bubke an seinem Stammplatz an der Theke, den er einnimmt, seit er vor 26 Jahren seinen Dienst beim FC St. Pauli angetreten hat. „Es ist immer noch alles ganz genauso wie am allerersten Abend. In dieses Clubheim kommen alle, ob sie aus Bayern, Schalke oder Bremen sind, weil sie es cool finden.“

Wo bei anderen Profi-Clubs eine klare Trennung zwischen Stadiongastronomie und Vereinsgaststätte herrscht, fließen bei St. Pauli die Welten seit jeher zusammen. So kann es passieren, dass am Wochenende die Altherren-Mannschaft die dritte Halbzeit begeht, während gleichzeitig die Fans von Schalke 04 ihren Sieg gegen den HSV hier feiern und Trainer Holger Stanislawski bei Wirtin Dagmar in der Küche ein Bier zischt.

„Ich habe mal mit Mehmed Scholl einen getrunken“, erinnert sich Bubke und jeder Stammgast kennt mindestens einen Promi, mit dem er hier schon Brüderschaft geschlossen hat. „Auch mit den Wirten bin ich immer gut klargekommen, ob das nun Alfred Ristock war, Brigitte, oder jetzt Frank.“ Dabei gab es vor gut drei Jahren eine Zäsur, als die legendäre Wirtin Brigitte, die das Vereinsheim für viele zum Wohnzimmer machte, gehen musste.

„Seit Corny Littmann hier mit dem Besen durchgegangen ist und die Kneipe mehr Geld einnehmen muss, sind die Räume oft so ausgelastet, dass wir nach dem Training wegen irgendwelcher Veranstaltungen nicht reingekommen sind. Das war zeitweilig sehr nervig und wir haben mit dem Kasten Bier in der Umkleide gesessen“, sagt Christoph aus der 3. Seniorenmannschaft. „In Zukunft soll es aber separate Veranstaltungsräume geben, ich hoffe, dass das Clubheim dann mehr für uns da ist.“

Absoluter Höhepunkt der Abschiedswoche war natürlich das Heimspiel gegen Mainz 05, bei dem das Clubheim zwischen Gegengerade und Südkurve fast so niedergegrölt wurde, dass man sich die Abrissbagger sparen könnte. Die „You’ll never walk alone“ Gesänge werden nicht mit der Fan-üblichen Rührung vorgetragen, sondern fast wie Klagegesänge herausgeschrien. Und mitten drin ein paar Auswärtsfans, die überhaupt nicht daran denken, in den Bus zu steigen. „Ich habe mal eine Mail gekriegt von Fans des FC Augsburg, die sagten, das war hier das beste, was sie auswärts je erlebt haben“, berichtet Frank Wiekhorst.

Jürgen Klopp und sein Team sind die letzen Gäste, die das alte Reich von Bubu Bubke, die engen Katakomben unter der Gaststätte, betreten dürfen. „Auch wenn vieles alt und marode war – Kahn und Effenberg haben sich hier immer wohl gefühlt“, sagt Bubke auf einem seiner letzten Rundgänge. Und: „Die Einrichtung nehme ich komplett mit rüber in die neuen Räume.“

Auch im neuen Clubheim im Bauch der Südkurve werden viele Gegenstände mit alter Patina integriert, wie Tische, Stühle, Garderoben und der alte Trabi mit den Autogrammen der Spieler. Ob sich der „Charme des Verranzten“, wie es Seniorenspieler Christoph ausdrückt, tatsächlich wieder herstellt, ist eine der Fragen für die Rückrunde, die fast so wichtig sein wird, wie der Tabellenstand der Mannschaft. Doch zunächst soll es nach der Winterpause im Januar ein provisorisches Clubheim im Ballsaal hinter der Haupttribüne geben.

Wenn heute der endgültige Abriss beginnt, werden weder Zeugwart Bubu noch Seniorenspieler Christoph zusehen. „ Ich habe noch traurige Erinnerungen daran, wie die Bagger rollten und die Südtribüne abgerissen haben. Da bin ich geflüchtet, das war zu heftig.“