Sollen Kinderchecks Pflicht sein?

JA
Verpflichtende Früherkennungsuntersuchungen zum Schutz von Kindern vor Verwahrlosung, Misshandlung oder Tod sind notwendig. Die aktuellen Fälle solcher Misshandlungen haben erneut gezeigt, dass ein Pflicht-Screening angezeigt ist. Die ersten Ergebnisse dieses Screening im Saarland belegen, dass dies ein richtiger Weg ist.

Die verpflichtende Teilnahme von Kindern an den Früherkennungsuntersuchungen ist ein wichtiger und unerlässlicher Bestandteil zum Schutz von Kinder- und Jugendlichen vor Verwahrlosung, Misshandlung oder Tod. Die Einsicht in diese Notwendigkeit erfolgt bei vielen Politikern leider erst spät, aber zum Glück erfolgt sie.

Das Saarland hatte sich bereits vor über einem Jahr im Bundesrat sowie die CDU Saar auf dem CDU-Parteitag für eine bundesweite Einführung der verpflichtenden Früherkennungsuntersuchungen ausgesprochen. Leider ist eine bundesweite Umsetzung bislang gescheitert. Sowohl Bundesministerin von der Leyen wie auch Bundesministerin Schmidt haben sich öffentlich unter Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen ausgesprochen. Erneut wurde auch wieder von grundsätzlichen systematischen Bedenken gesprochen, weil angeblich mit einer Untersuchungspflicht ein „Generalverdacht“ gegen die Eltern verknüpft sei.

Die aktuellen Fälle haben erneut gezeigt, dass ein Screening ein wichtiges Instrument zum Schutz vor Kindesmisshandlung und Kindesverwahrlosung sein kann. Das Saarland hat seit einem Jahr gehandelt und ein konkretes funktionsfähiges und effektives Hilfesystem installiert. Das Saarland kann hier auch für andere Länder Vorbild sein. Rheinland-Pfalz wird ab dem nächsten Jahr nach dem Vorbild des Saarlands die Kinder screenen. Das Meldesystem im Saarland läuft seit April im Echtbetrieb. Begonnen wurde mit der frühkindlichen Untersuchung U 5 (6. bis 7. Lebensmonat). Seit Oktober werden auch die restlichen Vorsorgeuntersuchungen (U 3 bis U 9) gescreent. Alle 40.000 saarländischen Kinder von der 6. Lebenswoche bis zum 64. Lebensmonat sind damit im Saarland im Screening.

Notwendig war eine Änderung des Gesundheitsdienstgesetzes. Hier wurde eine Vorschrift eingefügt, die die Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen für Kinder verpflichtend vorschreibt. Diese Änderung wurde durch ein Gesetz zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung vorgenommen. Das Gesetz enthält eine Verpflichtung für Kinderärzte, aber auch für Hebammen und Geburtshelfer, vollzogene Untersuchungen an die Screeningstelle zu melden. Erfolgt dann innerhalb kurzer Frist (einer Woche) keine Untersuchung, wird das zuständige Gesundheitsamt von der Screeningstelle unterrichtet. Das Gesundheitsamt wird sofort aktiv und sucht mit einem Kinderarzt die Familie auf. Wenn sich bei diesem Besuch Probleme ergeben oder Anzeichen für Vernachlässigung erkannt werden, so wird das Jugendamt eingeschaltet, damit das gesamte Instrumentarium des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zur Anwendung kommen kann.

Die Screeningstelle wurde bewusst bei der Universitätskinderklinik angesiedelt, damit die Erinnerungsschreiben und das Verfahren von betroffenen Eltern nicht als „staatliche Gewaltmaßnahme“ begriffen werden. Um Abwehrreaktionen zu vermeiden, wurde zur Erstintervention auch bewusst eine Zuständigkeit der Gesundheitsämter begründet, weil das Jugendamt insbesondere in sozialen Problembereichen von vornherein als „feindlich“ begriffen wird. Das Verfahren ist verwaltungsmäßig sehr einfach. Die ersten Ergebnisse bezogen auf die U 5 zeigen erschreckende Ergebnisse und belegen, wie wichtig und richtig die Einführung der Untersuchungspflicht war: Sie widerlegen die bisherige Annahme, wonach deutlich mehr als 90 Prozent die Vorsorgeuntersuchungen im frühen Kindesalter in Anspruch nehmen. Völlig unauffällig, unaufgefordert und ohne jede Erinnerung oder Mahnung sind nur 78,8 Prozent der Eltern mit ihren Kindern zu der so wichtigen U 5 gegangen. Weitere gut 17 Prozent haben die Untersuchung erst nach erster oder zweiter Mahnung wahrgenommen. In 3,5 Prozent der Fälle mussten die Gesundheitsämter aktiv werden und Familien aufsuchen. Nach diesen Besuchen des Gesundheitsamtes wurde in insgesamt 0,6 Prozent der Fälle das Jugendamt eingeschaltet, weil beim Hausbesuch des Gesundheitsamtes Anzeichen für schwerwiegendere Probleme erkennbar wurden. Deshalb haben wir parallel zu der Implementierung des Überwachungssystems als andere Seite auch die Familienhilfe intensiviert, indem als Ausfluss eines Modellprojektes Familienhebammen im größeren Stil eingesetzt werden. Dazu zählen zahlreiche Maßnahmen zur Stärkung der Erziehungskompetenz, der Einsatz von Familienhebammen und ein umfängliches Angebot an Erziehungsbegleitung und Erziehungshilfen. Nach dem Grundsatz: „Keiner fällt durch’s Netz.“

PETER MÜLLER

NEIN
Die Debatte über einen Zwang zu Kinderchecks ist nervtötend – und lenkt davon ab, was passieren muss: Staat und Gesellschaft müssen die Verantwortung für die (Lebens-) Chancen jedes Kindes endlich neu aufteilen

Wie lange muss es noch dauern? Und wie viele Kinder müssen noch sterben, ehe die quälende Debatte über staatlich kontrollierte Kinderchecks ein Ende hat? Der Ablauf ist immer der gleiche: Irgendwo verhungert ein Säugling oder wird ein Kind erschlagen. Es dauert meist nur wenige Stunden, und schon hängt die Debatte wieder am selben Punkt: Sollen die Vorsorgeuntersuchungen, besser bekannt als U 1 bis U 9, künftig vom Staatskommissar überwacht werden? Minister A sagt Ja, Minister B sagt Nee. Wenn’s gut läuft, setzt ein/e Bundeskanzler/in das Thema auf die Tagesordnung – so wie heute beim Kindergipfel. Mehr als föderales Gezänk ist auf diesem Gipfel der Verantwortungslosigkeit allerdings nicht zu erwarten. Denn die Kindsverwahrlosung hat hierzulande System, mit staatlichen Geprotze ist ihr nicht beizukommen.

Zu den Untersuchungen U 1 bis U 6 soll ein Arzt die Kleinkinder im ersten Lebensjahr auf ihren Entwicklungsstand testen. Aber von der U 6 bis zur U 9 tun sich gewaltige Lücken von ein- bis zweieinhalb Jahren auf – genug Zeit, damit Karolina (3 Jahre), Dennis (6), Michelle (2), Jessica (7) sterben konnten. Ohne dass es ein Amtsarzt hätte merken müssen. Wer genau hinsieht, weiß, dass selbst im ersten engmaschig getesteten Jahr genug Zeit ist, um zwischen den Us zu sterben. U 1 findet nach der Geburt statt, U 2 zehn Tage danach, U 3 spätestens in der sechsten Lebenswoche, U 4 bis zum fünften Monat, U 5 bis zum siebten Monat, U 6 bis zum zwölften Monat. Zu große Abstände, zu viel Zeit, um Leon Sebastian in Sömmerda zu retten (zehn Monate, verdurstet) oder André aus Iserlohn eine Chance auf Leben zu geben (drei Monate, unterernährt) – von den erschlagenen Kindern gar nicht zu reden. Nicht umsonst wird davor gewarnt, sich auf die Zwangs-Us zu verlassen.

Das soll nicht heißen, dass die besser beobachtete Reihenuntersuchung nicht eine Methode sein kann. Aber eben nur eine in einem Bündel von Maßnahmen, das nötig ist, das Sterben in deutschen Kinderzimmern zu erschweren. Staat und Gesellschaft müssen endlich aufhören, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Sie sind beide verantwortlich, aber sie nehmen ihre Verantwortung nur ungenügend wahr. Das hat historische Gründe – die man verstehen muss, damit man nicht erneut auf die „Jetzt passen wir aber auf“-Propaganda der Ministerpräsidenten hereinfällt.

Es hängt mit dem Mutterbild zusammen. Die Mutter galt hierzulande als die Erzieherin schlechthin, ihre Erziehungszuständigkeit wurde immer als Vorrecht der Familie angesehen – und gegen den Staat verteidigt. Daraus entstand im 19. Jahrhundert eine scharfe Zweiteilung: Der Staat durfte sich eine bürokratisch hochgerüstete Schule heranzüchten – vormittags. Ab zwölf galt dann das heilige Recht der Familie. Deutschland wurde so ein europäischer Ausnahmefall. Kindergärten waren nur als Bewahranstalten für Arme gelitten. Und wenn, dann allenfalls halbtags. Das ist auch heute noch die unverständliche deutsche Praxis. Es ist gerade mal fünf Jahre her, dass der Ausbau von Ganztagsschulen begann, der von Kindertagesstätten läuft jetzt mühsam an – 150 Jahre nachdem Friedrich Fröbel den Kindergarten als Bildungsanstalt erfand. In Deutschland übrigens.

Parallel dazu beobachten wir eine schwach ausgebaute öffentlich-private Fürsorge für verwahrloste Kinder. Wer mit den Sozialarbeitern, Kirchenhelfern und Stiftungsleuten spricht, denen also, die täglich mit der Bildungsarmut kämpfen, erntet oft nur Verzweiflung: über fehlendes Geld und eine oft tödliche Arbeitsteilung zwischen Ämtern und Familien. Ein paar Ministerpräsidenten behaupten, mit Zwangsuntersuchungen das Kindersterben entscheidend eindämmen zu können. Sie wiegen die Bürger in einer falschen Sicherheit. Denn ein Regime der Veranwortungslosigkeit aus dem vorletzten Jahrhundert lässt sich nicht durch einen Federstrich ändern. Alle müssen anpacken: der Staat, die Kirche, die Gesellschaft, die Jugendhilfe, die Nachbarn – je präventiver, desto besser. Und es müssen neue Instrumente her, und zwar so schnell wie möglich.

Dazu gehören drei Elemente: Es braucht, erstens, eine neue Kultur der Aufmerksamkeit. Es gibt bereits Nachbarschaftsnetzwerke in sozialen Brennpunkten, die genauer hinschauen. Ihnen entgeht selten, dass ein Kind verwahrlost oder nicht mehr auf die Straße tritt. Zweitens müssen diese Netzwerke durch konkrete Posten verknüpft werden. Mit Quartiersmanagern, die das alles zusammenhalten. Und so genannten FamilienpatInnen oder -hebammen. Sie begleiten junge Frauen konstruktiv, sobald sie einen dicken Bauch haben. Und drittens kann dann auch die gut beobachtete und folgenreiche Vorsorgeuntersuchung hinzutreten, als Moment des Zwangs. Sie allein kann – fast – nichts ausrichten.

CHRISTIAN FÜLLER