Klassische Bildung: der neue Trend?

Der Verbrecher Verlag stellte am Dienstagabend im Monarch die „Sagen des klassischen Altertums“ vor

Am Dienstagabend feierte das schwäbische Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts seine Auferstehung in den Räumen des Monarch am Kottbusser Tor. Der Verbrecher Verlag hatte zur letzten Lesung des Jahres geladen und servierte dazu ein besonderes Zuckerstück: „Die Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab gehören schließlich seit 160 Jahren zu den Standardwerken griechischer Mythologie. Und obwohl dieser Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur große Verbreitung fand und immer noch findet, ist es erstaunlich, wie wenig selbst bei humanistischer Gymnasialbildung davon hängen geblieben ist. Ödipus und Sisyphos, das Orakel von Delphi, das Damoklesschwert und das Danaergeschenk sind zwar noch in unserem Sprachgebrauch, aber wer weiß schon, was das alles bedeutet und woher es kommt.

So las Verlagschef Jörg Sundermeyer andächtig und ohne übertriebene Ironie Schwabs Übersetzung von „Iasons Ende“, eigentlich die Geschichte der Medea, vor. Wie auch heute üblich bei Politikergattinnen, sollte Medea nach ein paar Ehejahren gegen ein jüngeres Modell getauscht werden, daraufhin bemächtigte sich ihrer der Wahnsinn, und sie rächte sich mit einem vergifteten Brautgeschenk und anderen Mordtaten.

Sehr schön ist die Übersetzung, wenn es an die Splatterszenen geht. „Sie begann die Augensterne zu verdrehen, und Schaum trat ihr über den Mund“, heißt es da, und wenig später erzählt man von „Kinder die unter dem Mordstahl bluteten“. Medea hatte bis zu diesem Zeitpunkt schon viel mitgemacht, goldenes Vlies stehlen, Bruder ermorden, Feinde zerstückeln und zerkochen – alles für den geliebten Mann. „Etwas dick aufgetragen“, mag man da denken, aber andererseits müssen die Protagonisten moderner Unterhaltungstragödien ja auch viel aushalten.

Nimmt man zum Beispiel Sandra aus „Gute Zeiten schlechte Zeiten“, so hat sie auch einiges hinter sich. Mutter spannt ihr den Freund aus, der neue verunglückt tödlich in der Hochzeitsnacht, erbitterter Erbschaftsstreit, Kampf ums Café Mokka, unheimliche Begegnung mir einem verwahrlosten Mann ohne Gedächtnis, Entführung durch seinen schizophrenen Zwillingsbruder, Mordversuch wird in letzter Sekunde vereitelt, dann sterben die Eltern beim Flugzeugabsturz, aus Trauer gerät sie in die Fänge der Sekte „Conception“, Ausstieg, Therapie. Letztendlich sind eben alle Fernsehserien nach dem Vorbild der historischen Dramaturgie gestaltet. Auch Thomas Blum, der zweite Vortragende, las andächtig von Hera und Zeus, von der Verwandlung einer jungen Frau in eine sehr schöne Kuh und von Argus mit seinen hundert Augen.

Bald ging dieser Abend am Kottbusser Tor in ein normales Rumstehen und Trinken über, aber die alten Geschichten hallten noch lange nach. Wieder einmal ahnt der Verbrecher Verlag als Branchetrendsetter eine neue Bewegung voraus: Nach der Renaissance der Quizshow und der Verbreitung der Heimwerker-, Erziehungs-, Auswanderungs-Doku und Kochshow wird im nächsten Jahr ganz bestimmt die Bildungsshow der Quotenrenner werden. Terrorangst, Angst vor Arbeitslosigkeit, Rückzug ins Heim, Besinnung auf alte Werte – was passt da besser als das Aufarbeiten des bildungbürgerlichen Kanons der Großeltern? Herrliche Projekte stehen uns in Aussicht: „Odyssee für Anfänger“, die „Nibelungen, menschlich gesehen“, „Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil“. Es steht allerdings zu befürchten, dass hier, wie überall, eine große Verflachung und Vereinfachung stattfinden wird. Man darf nicht allzu kulturpessimistisch in die Zukunft schauen, aber vielleicht wird von der neuen alten Bildungsbeflissenheit nur ein heiteres Zitateraten, eine „Geflügelte Worte“-Show überleben.

CHRISTIANE RÖSINGER