VERTRÄUMT MIT KOPFHÖRER
: Dunkles Mädchen

Sie ertragen es nicht, wenn jemand sich nicht um sie schert

Ringbahn, Dienstagnachmittag. Eine Schulklasse steigt ein und gruppiert sich um mich und mein Fahrrad drum rum. Einige der Jungs sehen aus wie 16, andere wie 9. Wahrscheinlich alle so 12, 13 Jahre alt.

Die beiden Klassenprinzessinnen lehnen links an der Trennwand und würdigen die Jungs keines Blickes. Rechts die männlichen Gegenstücke. Zwei Jünglinge, die aussehen wie die ungeschminkten kleinen Brüder von Tokio Hotel, reichen ein Smartphone hin und her, auf dem sie irgendein Autorennspiel spielen. „Woah, der war krass!“, sagen sie, „Hast du den gesehen?“ Zwei kleinere Jungs stehen dabei und himmeln sie an. „Ey, du stehst mir im Licht!“, sagt der blonde Jüngling. Ein Kleiner duckt sich weg.

Ein fünfter Junge steht daneben und guckt woandershin. Sein Blick ist weich, zärtlich. Ich folge ihm bis zu dem dünnen Mädchen mit bitterschokoladenbraunen Haaren, das allein an der Trennwand rechts hinter mir steht. Sie hat riesige dunkelrote Kopfhörer auf dem Kopf und liest in einem dicken moosgrünen Buch.

„Harry Potter“, denke ich. Als sie das Buch zuklappt, lese ich: „Die finstere Mördergrube der Verdammnis“. Ich denke, ich bin ein bisschen verliebt.

Dem Mädchen ist das egal. Sie hört Musik und lächelt verträumt vor sich hin.

„Vera, was machst du da“, fragen die Tokio-Hotel-Brüder plötzlich. Sie ertragen es nicht, wenn irgendjemand sich nicht um sie schert. Die Grazien stimmen mit ein: „Vera, hörst du Musik?“ – „Ist es schöne Musik, Vera?“ – „Vera, sag doch mal!“ – „Ich glaub, Vera hat die falschen Drogen genommen.“ Die Grazien lachen schrill. Vera schaut aus dem Fenster.

„Jetzt lasst sie doch mal“, sagt der fünfte Junge plötzlich, „sie kann euch nicht hören!“ Er dreht sich um und guckt sie an. „Sie hört doch nur Musik!“

Vera lächelt. LEA STREISAND