hamburger szene
: Schmaler Grat im S-Bahn-Schacht

Sie kündigt sich schon früh an. Steht man noch vor dem Automaten und wirft 1,30 Euro ein, grollt es in der Ferne, Minuten, bevor die S-Bahn tatsächlich einfährt. Ich werde dann immer ganz hektisch. Es muss die eine Bahn sein – fünf Minuten warten und die plakatierten Konzert-Ankündigungen zum zehnten Mal lesen? Geht einfach nicht. Deshalb renne ich lieber, lande unten im Pulk der Zuspätkommer, und gemeinsam springen wir in den Waggon. Und dann steht die Bahn noch drei Minuten. Schönen Dank.

Es geht rau zu da unten vor den Türen. Neulich beobachte ich, schon sitzend, einen Mann, der draußen mit gesenktem Blick den Boden abtastet. Zwei Bahn-Beamte kommen vorbei und bleiben stehen. Ich verstehe nichts, aber der Mann deutet immer wieder auf den Spalt zwischen Bahn und Bahnsteig. Er humpelt. Bestimmt hat er sich verletzt. Ich schaue auf seinen Fuß. Nichts da. Keine Verletzung ist zu stehen – nur eine weiße Tennissocke, grau, schwarz. Der Mann hat seinen Schuh verloren.

Die Beamten müssen schmunzeln, zucken die Schultern und deuten, dass da wohl nichts anderes bleibt, als darauf zu warten, dass die Bahn wegfährt. Wie wird er aussehen, der Schuh, zermalmt von den Rädern? Könnte der Zug bei Schuhgröße 48 vielleicht entgleisen?

Ich hätte aussteigen und mir das Elend aus der Nachher-Perspektive anschauen sollen. Oder den Mann mit seinem grau-schwarz-weißen Socken – schuhlos in Hamburg. MAIKE WÜLLNER