NACHMITTÄGLICHER SPAZIERGANG AN HEILIGABEND
: Die Stunde, bevor es richtig losgeht

Westwärts, ho!

VON DIRK KNIPPHALS

Rituale. Zu den festen Programmpunkten meiner Heiligabendgestaltung gehört ein nachmittäglicher Spaziergang; er wird bestimmt auch dies Jahr wieder sehr schön werden. Der Erledigungsstress ist erst mal vorbei, der Feierstress stresst noch nicht, dafür ist die Vorfreude, ruhig und freundschaftlich winkend, schon bei einem. Ich habe diesen Spaziergang bereits in vielen sozialen Konstellationen unternommen. Mit Mutter. Mit Freundin. Mit plapperndem Kleinkind an der Hand. Mit befreundeten Paaren, wenn über Weihnachten Besuch da war. Allein. Und meistens hielt dieser Tag während dieses Spaziergangs wenigstens für einen Augenblick den Atem an.

Allein ist auch gar nicht so schlecht. Aber das kriege ich erst seit kurzem hin – allein für mich noch meine Runde zu drehen, die Hände in den Hosentaschen, das Handy absichtlich zu Hause liegen gelassen, und leicht sentimentale Blicke zurück und vorwärts in mein Leben zu werfen. Lange habe ich bei solchen Spaziergängen ein leichtes Unwohlsein mit einem trotzigen „Na und!“ kontern müssen. Wahrscheinlich wirkt meine Prägung in einem Vorort in den Siebzigern noch nach, in dem sich Kleinfamilie auf heile Welt reimte. Wer da am Heiligabend nachmittags als mittelalter Mann allein durch die Straßen lief, trug ein Kainsmal auf der Stirn: verfehltes Leben! Aber das ist in der Großstadt natürlich nicht so arg.

Von hier aus könnte ich in dieser Kolumne leicht ins Soziologische einschwenken. Dass sich der Familienkult zu Weihnachten in Schöneberg, wo ich wohne, zuletzt sehr glücklich erneuert und ausdifferenziert hat: in manchen Fällen sogar wirklich zu dem zwanglosen Zusammensein und der gemeinsam geteilten Zeit, die immer das Ideal war, die aber in der Realität allzu lange an starren Rollenzuschreibungen gescheitert ist. Dass sich daneben aber auch die Freundschaftsnetzwerke erfreulich entwickelt haben: Wer keine Familie hat, tut sich an Heiligabend halt zusammen, kocht etwas Gutes, betrinkt sich milde und schaut dann vielleicht noch ein paar Folgen der neuesten US-Serie.

Das Weihnachtsbrimborium ist bei solchen Treffen heruntergedimmt. Vielleicht gibt es nur einen Tannenzweig mit ein paar halb ironisch hineingehängten Kugeln. Vielleicht spielt auch jemand dieses so nett unweihnachtliche Weihnachtslied von Maren Eggert mit der Band Erdmöbel („Ich hab Weihnachten vergessen. Hallelujah. Hallelujah“), das sich auf Facebook in meinem Bekanntenkreis zuletzt explosionsartig verbreitet hat. Allerdings wurde mir berichtet, dass sich auch in diesen heruntergedimmten Freundschaftsheiligabenden unwillkürlich etwas Weihnachtliches herstellt. Tief drin in uns liegt nun einmal sozialisationsbedingt dieses seltsame Wort „besinnlich“. Ganz schön eigentlich, dass sich die sozialen Möglichkeiten so vermehrt haben, dem nachzuhängen – zur Not reicht auch ein Teelicht als Lichterglanz.

Aber lassen wir das. Wir wollen diesen kleinen Spaziergang soziologisch nicht beschweren. Es geht ja nur darum, bei sich zu sein und sich, in dieser besonderen Stunde, in seinen vertrauten Straßen die Dinge vielleicht noch einmal aus leicht veränderter Perspektive anzusehen. Die vier Weihnachtsbäume zum Beispiel, die die Bewohner des Hauses Goltzstraße/Franckenstraße seit Jahren auf ihre vier übereinander liegenden Balkons stellen und identisch schmücken. Oder auch nur eins der letzten Blätter, die der Wind vom Baum weht. Auch so ein Geschenk, diese Stunde, bevor es richtig losgeht.