TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Ein Staat für ein Buch

Freunde wie aus dem SPD-Liederbuch, aber statt des fröhlichen „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ “ Anspannung wie beim Einzug Kaiser Franz Josephs ins Wiener Burgtheater. Unter tonnenschweren Kronleuchtern hieß es kürzlich in der russischen Botschaft zu Berlin, die Limousine des Wirtschaftsministers sei nun vorgefahren, man hielt sich auf den Stühlen nicht gerade gegenseitig die Köpfe fest, um sich vom Blick nach hinten abzuhalten, aber wäre jemand auf die Idee gekommen, nur zu lächeln, hätte man denjenigen angewiesen, nicht zu lächeln, das fühlte man klar und kam deshalb nicht einmal auf die Idee, zu lächeln, und warum sollte man in der russischen Botschaft auch lächeln?

Ob als Vizekanzler oder als Wirtschaftsminister, wusste man nicht so genau, aber Sigmar Gabriel war gekommen, um ein Buch für den privatwirtschaftlichen Corso Verlag und seinen Freund Heino Wiese zu promoten, den Manager seiner verlorenen Wahl in Hannover 2003. Wiese ging dann in die Wirtschaft und gründete „Wiese Consult“, wo er „still Kontakte knüpft“ und „mit einem umfassenden und effizienten Netzwerk flexibel auf die Anliegen der Kunden reagiert“. Im Vorstand des Deutsch-Russischen Forums, eines „Netzwerks mit Mehrwert“ im Sinne des Wortes, lobbyiert er in kleinem, illustrem Kreis und trifft etwa auf Repräsentanten von Gazprom, die dann auch sein Buch mitfinanziert haben, das er mit Sigmar Gabriel und Botschafter Wladimir Grinin in der russischen Botschaft präsentierte.

Das Buch heißt „Russland“, und wie Heino Wiese freundlich verkündete, konnte er als Herausgeber „junge freche Journalistinnen“ als Autorinnen dafür gewinnen: Jessica Schober und Wlada Kolosowa, die auf der Bühne im großen Saal der Botschaft saßen, als würden sie die Erstkommunion erwarten. In ihrem Buch präsentieren sie kurze Alltagsgeschichten, Porträts und Fotos von ihren Russlandreisen. Die Welt lobte das Buch als „unpolitischen Band“ über „ganz normale Menschen“. Normal genug für den russischen Botschafter, der in seiner Rede einen Widerspruch zwischen „Mainstream“ und „Pressefreiheit“ konstruieren und irgendwie die deutsche Pressefreiheit vor dem allgegenwärtigen deutschen Russlandbashing retten wollte. Das Buch „Russland“: eine löbliche Ausnahme.

Gabriel tat das, was die SPD immer tut, wenn sie nicht weiterweiß: Sie zitiert Willy Brandt und will ein „Volk der guten Nachbarn“ sein. Gabriel wünschte sich auch eine Wiederbelebung des „Petersburger Dialogs“. Deutsche NGOs hatten ihn 2014 wegen Repressalien der russischen Führung gegen zivilgesellschaftliche Organisationen abgesagt. „Die Stimme der Zivilgesellschaft“ hingegen sah Gabriel an diesem Abend aus dem Buch sprechen, das er sehr empfehlen konnte. Auch eine handfeste Utopie hatte er in die Botschaft mitgebracht. Eine mit Mehrwert: Er träume von einem Freihandelsabkommen von Lissabon bis Wladiwostok. Aber noch immer: kein Lächeln.

■ Die Autorin ist Kulturredakteurin