Letztes Konzert im legendären Sendesaal

Akustikwunder von Radio Bremen ist zum Abriss freigegeben. Das Hamburger Quintett Jean Paul nützte die Chance, die Abschiedsvorstellung zu gestalten. Das neue „Event Studio“ könne den alten Raum nicht ersetzen, kritisiert ein Redakteur

„Der Saal bleibt!“ Einsam renitent, unwidersprochen, aber auch ohne aufbrausenden Solidaritätsapplaus blieb dieser Ausruf einer Besucherin in die üppige Stille hinein. Mit einem wundersam aufbrausenden, dann langsam ausgehauchten „Round midnight“ war soeben das letzte von Radio Bremen (RB) veranstaltete Konzert im Sendesaal verklungen – dem weltberühmten Studio F. Einige Besucher knipsen noch schnell ein Erinnerungsfoto, Jacke an und raus. Die Schlüssel für die Büros und Studios sind abzugeben. Ein Container für den beim Abriss anfallenden Elektroschrott steht schon am Hinterausgang.

Radio Bremen bündelt seine Fernseh, Radio- und Online-Aktivitäten jetzt citynah in einem 80-Millionen-Euro-Neubau, um jährlich 3,5 Millionen Euro Betriebskosten zu sparen. Dabei wird mit dem Sendesaal ein Stück Rundfunkgeschichte weggespart. „Keine Sentimentalitäten“, hatte Radio-Bremen-Redakteur Arne Schumacher in seiner Abschiedsrede gewünscht, obwohl der Sendesaal für viele Konzertgänger ein Ort der musikalischen Sozialisation war. Alfred Brendel, John Lee Hooker, Keith Jarrett, Richard Thompson – in Sachen Klassik, Neue Musik, Jazz, Blues, Folk wurde hier live Bildung vermittelt. Tickets waren immer günstig zu erwerben oder als Freikarten erhältlich.

Nicht aus Menschenfreundlichkeit: Das Studio war „Produktionsmittel“ des Senders, wie Schumacher betont. Es ging darum, eine Atmosphäre für möglichst gute Live-Konzert-Sendungen zu schaffen. Dazu benötigte man Publikum nicht nur für das Applausdesign, sondern als neugierig lauschende Inspiration für die Künstler. Dabei half der Sendesaal.

Wer das Parkett betrat und sich in die knarrende Enge der Klappstuhlreihen zwängte, die in jedem Kino bereits vor 20 Jahren ausgetauscht worden wären, der wusste: Gogo-Girls, Lichteffekte und Nebelmaschinen gibt es hier nicht. Der Raum konzentrierte die Besucher auf die Musik und ermöglichte trotz seiner Größe eine Intimität wie ein Kammermusiksaal.

Der Sendesaal ist das Gegenteil barocker Repräsentationsarchitektur. Von außen gleicht er einem leicht geblähten Lichtspielhaus, sehr dezent mit aparten Bullaugen besetzt und von einem behutsam geschwungenen Dach gekrönt. In schmerzhafter Bürobeleuchtung erstrahlt ein schmerzhaft nüchternes Foyer. Unter der sanft gewellten Decke sind die Wände bespannt mit dunklem Gewebe, rhythmisch strukturiert durch helle Holzleisten. Außer einer studiotechnischen Neuausrüstung in den 90er Jahren wurde seit dem Bau 1952 nie etwas entscheidend modernisiert. Architekt war Hans Storm. „Form follows Function, die beliebte Formel der architektonischen Moderne ist hier in Reinkultur umgesetzt worden“, steht im Bremer Architekturführer. Storm vermied parallele Flächen und packte den Saal in zwei Hüllen, stahlgefedert ineinandergeschachtelt. Das ist akustisch ideal für Kammermusik und Solisten und machte den Sendesaal weltweit berühmt als Aufnahmestudio. Für Sinfonieorchester und für elektrisch verstärkte Musik war er weniger geeignet.

Richtig problematisch aber ist der neue Sendesaal, Event-Studio genannt. „Dort funktionieren viele Sachen gar nicht“, hat der Redakteur Schumacher festgestellt. Die RB-Veranstaltungen, die für das ausgedünnte Konzertleben Bremens so wichtig sind, haben sich daher im Kulturzentrum Schlachthof ein vorläufiges Asyl gesucht. Das wird teuer, da der Sendesaal kostenlos genutzt werden konnte, und auch weil die Künstler dort zumeist ohne Gage auftraten.

Sympathisch, dass zum Ausklang nicht ein Star gefeiert wurde, sondern das vielversprechende Hamburger „Quintett Jean Paul“ gastierte. Des historischen Moments eingedenk, begannen die Jazzer ehrfürchtig, mixten dann aber Jazzrock, Bebop und Soul erfrischend vielsagend und energisch neu zusammen. Sie gaben Aromen frei, die schon längst zerkocht schienen: hymnisch halbstark, immer kontrolliert und doch von raffinierter Sinnlichkeit. Mal spröde, mal harmonieverliebt spielte die Gruppe, wobei sich ein spannungsreicher Kontrast zwischen dem wuchtigen Ton des ins Harsche hinein beschleunigenden Saxofonisten Gabriel Coburger und dem eleganten Bariton des Sängers Kenny Norris ergab: frei von Sentimentalität, ein würdiges Finale.

Finale? Bis Ende des Jahres kann die Investorengruppe, die das RB-Gelände für den Bau von Wohnungen gekauft und den Abrissantrag für den Sendesaal gestellt hat, noch einen Rückzieher machen. Den Denkmalschutz hat der Senat bereits aufgehoben. Millionenschwere Investoren, die für das alternative Nutzungskonzept – eine Art Künstlerdorf für Senioren und Musikstudenten – nötig wären, stehen nicht in Aussicht. JENS FISCHER