nebensachen aus neukölln
: Sieben Sekunden Stille

Es sind ziemlich genau sieben Sekunden. Sieben Sekunden Stille, eingefasst in dröhnenden Alltag. Sieben Sekunden, die ich genussvoll aufsauge, sieben Sekunden wohliger Versenkung. Bis die Ansage kommt.

Die winzige akustische Oase, die ich so schätze, ist ein Fahrstuhl. Ein hundsgewöhnlicher Fahrstuhl, der den U-Bahnhof Rathaus Neukölln mit der Oberwelt verbindet. Der Aufzug sieht aus wie viele andere BVG-Aufzüge: ein Türmchen aus schmutzigem Glas, gefasst in Metall. Viele Nutzer verkürzen sich die Wartezeit, indem sie durch die zerkratzten Türen in den Schacht hinunterschielen und auf eine Bewegung der Mechanik warten. Manchmal bewegt sich stundenlang gar nichts, dann klebt ein Zettel auf der Tür oder auch nicht. Ein hundsgewöhnlicher Fahrstuhl eben. Auch ich benutze den Fahrstuhl hin und wieder; früher oft aus Bequemlichkeit, heute aus Leidenschaft. Denn irgendwann war mir aufgefallen: Oben ist es laut, unten ist es laut, in der Mitte – Stille. Oben röhren Motoren vor roten Ampeln, unten rollen Züge ein, zischt die Hydraulik der Türen, rempeln sich die Menschen zu den Ausgängen. Ganz zu schweigen von der Meute, die diesen Bahnhof zum Austragungsort für ihr tägliches Kampftrinken erkoren hat.

Also Lärm oben, Lärm unten. Sobald sich aber die Fahrstuhltüren mit schleifendem Geräusch geschlossen haben, tritt eine geradezu unwirkliche Stille ein. Die Kabine sinkt langsam unter die Straße, für einen Moment ist draußen nur betongrauer Schacht, und in diesem Augenblick bin ich ausnahmsweise froh darüber, dass sich die Aufzüge der Verkehrsbetriebe gemeinhin in Zeitlupe bewegen.

Zwei, drei Atemzüge lang schrumpfen alle Umgebungsgeräusche zu einem Flüstern: eine Stille auf Knopfdruck, die den Kopf befreit für eine Instant-Meditation. Ein Wimpernschlag Wellness. Warum? Vielleicht hat die Fahrstuhlfirma hier versehentlich Schallschutzscheiben eingesetzt. Vielleicht handelt es sich um ein noch nicht erforschtes Phänomen von Schall und Antischall, Wellen, deren Amplituden sich zufällig an einem Ort neutralisieren. Oder bilde ich mir das alles nur ein?

Mit Sicherheit kein Produkt meiner Fantasie ist die Ansage, die nach ungefähr sieben Sekunden erklingt und meinen Dämmerzustand jäh beendet. Das gelingt ihr besonders gründlich, weil sie so skurril ist: Die Frauenstimme, die verkündet, dass man auf der „unteren Ebene“ bei den Zügen nach „Rathaus Spandau und Rudow“ angelangt ist, spricht kehligstes Niederbayerisch, mit rollenden R und mit A, die wie O klingen. Vermutlich gibt es in der Region rund um den Bayerischen Wald Sonderwirtschaftszonen, wo Firmen, die Fahrstuhlansagetexte herstellen, billigste Arbeitskraft vorfinden. Allerdings habe ich in Berlin bislang keinen zweiten Fahrstuhl entdeckt, der Bayerisch spricht.

Ich habe inzwischen ein wenig Sorge, dass der Effekt sich abnutzt. Wie mir scheint, darf man die Illusion des Aus-der-Welt-Seins nicht erzwingen, sonst hört man das Restrauschen umso stärker. In letzter Zeit nehme ich wieder häufiger die Treppe.CLAUDIUS PRÖSSER