Rückblick (2/3)

Ingo Arend, Kunstredakteur taz

Eigentlich kamen die „Gesichter der Renaissance“ zur rechten Zeit. In der Schuldenkrise lag Europas Selbstbewusstsein am Boden. Da führten die 150 kostbaren Porträts aus Italien dem taumelnden Weltführer in Sachen Aufklärung noch einmal seine historischen Errungenschaft vor Augen: die Erfindung des Ich. Trotzdem rief der sensationellen Schau niemand mit derselben Inbrunst nach wie Nicolaus Schafhausen dem unangefochtenen Weltführer in Sachen Provokation: „Maurizio, komm bald wieder“, klagte der Direktor des Rotterdamer Witte de With Centers angesichts von Maurizio Cattelans Retrospektive „All“ im New Yorker Guggenheim. Mit der schrillen Schau lief das abgehängte New York der „Weltkunsthauptstadt“ Berlin den Rang ab. Nicht, dass wir uns Cattelan in Berlin gewünscht hätten, um das Gefühl gehabt zu haben, hier auf der Höhe der Zeit gewesen zu sein. Schließlich waren auch hier tolle Sachen zu sehen: Absalons radikale Architektur in den KunstWerken oder die verrückte Hommage an die Soundpioniere von Can im Künstlerhaus Bethanien mit Werken von Sven Drühl, Frank Nitsche, Carsten Nicolai, Albert Oehlen und vielen anderen. Und die „Gesichter“ lieferten ja auch den Beweis, dass selbst kunsthistorische Blockbuster nicht zum Standort-Spektakel à la „Das MoMa in Berlin“ verkommen müssen. Sondern einen Mehrwert an Erkenntnis jenseits der üblichen Reliquienverehrung liefern können. Natürlich lässt sich Cattelans vom Meteor getroffener Papst nicht mit Mino da Fiesoles Marmorbüste eines italienischen Bankiers vergleichen. Aber die Porträtkunst der Renaissance offenbarte fast mehr über die raffinierten Techniken, das Ich zu inszenieren, wie sie bis heute in der Politik und neuerdings in den sozialen Netzwerken grassieren, als viele zeitgenössische Werke, die in diesem Jahr in Berlin zu sehen waren. So gesehen kompensierte die Historienschau eine aufschlussreiche Leerstelle in Sachen Zeitgenossenschaft. Die auch das verunglückte „Based in Berlin“ mehr unterstrich, als es sie füllen konnte. Nur die Nationalgalerie war mit Taryn Simons sperriger Schau „A Living Man declared Dead and other Chapters“ dem Neuen auf der Spur, das wir uns von der Kunst erhoffen. Und wohin, wenn nicht nach Berlin, hätte die Themenschau „Über die Metapher des Wachstums“ gehört? Oder die Sammelschau von Arbeiten Aernout Miks? Der niederländische Videokünstler untersucht die Mechanismen, mit denen Menschen im öffentlichen Raum auf die globalen Krisen reagieren. Die eine war aber im Kunstverein Frankfurt, die andere im Essener Museum Folkwang zu sehen.