Wo der Kiez zum Wohnzimmer wird

KENNEN SIE BERLIN? (TEIL 2) Die Falckensteinstraße verändert sich. Manche freuen sich darüber. Für andere ist sie ein Symbol der Gentrifizierung

■ Alteingesessene und Altzugezogene werden abwinken – aber selbst ihnen bietet der neue Berlin-Reiseführer des Trescher Verlags noch unerwartete Einblicke. 15 taz-Autoren erzählen in dem Band die Geschichte von Orten, die unspektakulär daherkommen, aber auf eine ganz besondere Weise das Wesen der Metropole verkörpern. In dieser und den kommenden Ausgaben präsentieren wir eine Auswahl. Der Band ist informativ und praktisch, auch dank der herausnehmbaren Faltkarte. Ob Ausflüge in die Szene oder ins Grüne – Besucher werden schrittsicher an die Hand genommen.

■ S. Klimann, R. Knoller, C. Nowak: „Berlin“. Trescher 2011, 471 S., 400 Fotos, 17 Detailkarten, 16,95 Euro

Sobald im Frühjahr die Sonne rauskommt, wird die Falckensteinstraße zum öffentlichen Wohnzimmer. Die Stühle und Tische der Restaurants stehen dann auf dem Bürgersteig dicht an dicht. Die roten Luftballons am türkischen Eisladen wackeln hin und her, die Schlange davor reicht oft bis auf die Fahrbahn. Gegenüber wird Steinofen-Pizza und Bionade verkauft. An warmen Sommertagen tummeln sich auf der Straße Partygänger und Frauen mit Kopftüchern, Familien und Freaks, Berliner und Touristen.

Es ist genau diese Mischung von Menschen, die Kreuzberg ausmacht. Da verwundert es nicht, dass die Falckensteinstraße längst kein Geheimtipp mehr ist. Vom Trubel profitiert vor allem die Gastronomie. In den letzten Jahren haben viele neue Cafés und Restaurants eröffnet. „Las Primas“, eine nette Kneipe an der Ecke Wrangelstraße, die von lesbischen Spanierinnen geleitet wird. Ein italienischer Feinkostladen, der mittags frische Pasta anbietet. Auch einige austauschbare asiatische Restaurants versuchen hier inzwischen ihr Glück. Selbst die Clubszene hat die Falckensteinstraße entdeckt: Am nördlichen Ende in Richtung Oberbaumbrücke finden sich mit dem Watergate und dem Magnet-Club zwei echte Institutionen des Berliner Nachtlebens.

Man kann sagen: Die Straße blüht auf. Man kann die Entwicklung aber auch skeptischer beurteilen, wie es manche Kreuzberger tun. Für sie ist die Falckensteinstraße inzwischen zum Symbol für die Aufwertung der Gegend geworden. Studien haben ergeben, dass vor allem Besserverdienende in den Stadtteil ziehen. Die Mieten steigen. Im Kiez um die Wrangelstraße mussten die Anwohner 1993 im Schnitt nur ein Fünftel ihres Einkommens für die Wohnkosten ausgeben. Heute ist es rund ein Drittel.

Noch gibt es viele der alten Läden, die auch schon schlechtere Zeiten gesehen haben. Den Kaiser’s-Supermarkt an der Ecke Wrangelstraße. Die Schultheiss-Kneipe „Café Jasmin Bierbar“ mit Kickertisch. Den deutsch-türkischen Kinderladen in der Nummer 5. Andere mussten schließen: Ein Bestattungsunternehmen räumte bereits das Feld, auch ein Malerfachgeschäft machte 2010 dicht. Diesen Anlass nutzten linke Aktivisten, um auf das Problem der steigenden Mieten aufmerksam zu machen: Sie besetzten die Räume des ehemaligen Malergeschäfts kurzerhand und richteten dort einen antikapitalistischen Umsonstladen ein, bei dem man Waren abgeben und andere kostenlos mitnehmen kann. Mit mehreren Mannschaftswagen rückte daraufhin die Polizei an und räumte den Laden.

Auch viele Anwohner treibt das Thema um. „Wie wollen Sie den Leuten helfen, die sich die Mieten jetzt schon nicht mehr leisten können? Wo sollen wir denn hin?“, bestürmte eine Frau den grünen Bezirksbürgermeister Franz Schulz auf einer Bürgerversammlung im Frühjahr 2011. Der verweist bei solchen Fragen auf eingeschränkte Möglichkeiten der Kommunalpolitik und gibt die Forderungen weiter an den Senat – der sei zuständig. Die Gentrifizierung – Aufwertung eines Stadtteils und Verdrängung der ärmeren Bevölkerung – ist das große politische Thema rund um die Falckensteinstraße. Und wird es wohl noch eine Weile bleiben.

Die Gentrifizierung ist das große politische Thema rund um die Falckensteinstraße

ANTJE LANG-LENDORFF