Kurze Zeit, großes Programm

Ein Verlust: Nach 20 Monaten hört Elke Moltrecht als künstlerische Leiterin am Ballhaus Naunynstraße auf

Ein kleiner, dicker Junge und sechs finstere Männer, mehr war nicht nötig, um den Saal auszufüllen. Das taten sie nicht nur durch ihre leicht unheimliche Bühnenpräsenz, sondern vor allem mit ihren Stimmen, deren Klang der Raum vorbildlich zurückwarf. Der Junge wurde gespielt von der Performancekünstlerin Joanna Dudley, die Männer waren Mitglieder des Vokalensembles Capilla Flamenca, das flämische Vokalmusik aus dem 14. Jahrhundert sang.

In ihrem Musiktheaterstück „Who Killed Cock Robin?“, der letzten Premiere am Ballhaus Naunynstraße in diesem Jahr, nutzten die Künstler die hervorragende Akustik des Ballsaals auf beeindruckende Weise und kombinierten erfolgreich Alte Musik mit Performance und Videokunst. Mit dieser Aufführung, der letzten großen Produktion des Jahres im Ballhaus Naunynstraße, wurde zugleich das Ende für das Programm der vergangenen beiden Jahre eingeläutet. Nach nur zwanzig Monaten als künstlerische Leiterin muss Elke Moltrecht das Haus wieder verlassen. In dieser Zeit hatte die studierte Musikwissenschaftlerin mit verschiedenen Festivals ein vielseitiges und spannendes Programm aufgebaut, das weit über die Grenzen Kreuzbergs hinausstrahlte. Während das Haus unter ihrem Vorgänger Volker Bartz lediglich vermietet worden war, warb sie mit großem Engagement Fördermittel für Eigenproduktionen ein und begann Kooperationen mit Partnern wie der Kreuzberger StreetUniverCity, dem Club Transmediale oder dem Musikprotokoll Graz/Steirischer Herbst.

Im Zentrum von Moltrechts Konzept stand Neue Musik mit internationalem Anspruch, oft trat dabei der Unterschied zwischen E- und U-Musik in den Hintergrund. Den spezifischen Bedürfnissen des Kreuzberger Kiezes widmete sich ein vielfältiges Angebot zu den Themen Interkulturalität und Migration mit einem Programm aus Theater, Musik, Tanz und Neuen Medien. Einer der Höhepunkte der kurzen Intendanz Moltrechts war zweifellos das Festival „Interface“, das in den Jahren 2006 und 2007 eine Reihe spannender Konzerte mit elektronischer Musik bot – darunter auch der erste Berliner Auftritt der Elektronikpioniere Cluster seit dem Jahr 1969. Zu einem großen Erfolg vor vollbesetztem Haus geriet auch das in Kooperation mit dem Radialsystem entstandene Konzertprojekt „Im Sog der Klänge“ mit Uraufführungen von Komponisten wie Georg Friedrich Haas oder Enno Poppe, die die Möglichkeiten des Raumklangs als Kompositionsmittel ausloteten. Unter dem Titel „Kreuztanbul“ präsentierte das Ballhaus „Interkulturelles zwischen Kreuzberg und Istanbul in Ton, Bild und Wort“, einen ähnlichen Ansatz verfolgte das Diyalog-Theaterfest.

Auch die Bilanzen der vergangenen beiden Jahre können sich sehen lassen. Nachdem im Jahr 2006 knapp zehntausend Besucher zu den rund 120 Veranstaltungen kamen, gab es in diesem Jahr mit 200 Veranstaltungen und über zwanzigtausend Besuchern eine deutliche Steigerung. Doch Moltrechts Vertrag war bis zum Ende des Jahres befristet. Ihre Stelle musste in diesem Herbst neu ausgeschrieben werden, da ihr Vorgänger in Teilzeitruhestand gegangen war, der erst Ende des Jahres 2008 enden wird. Laut Auskunft des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg, dem Besitzer des Hauses, war die Stelle im vergangenen Jahr lediglich zur Überbrückung dieser Altersteilzeit besetzt worden. Im Januar wird Shermin Langhoff die Leitung des Hauses übernehmen. Die Theatermacherin, die unter anderem am HAU das „Beyond Belonging“-Festival kuratiert hat, will sich verstärkt dem Thema Migration widmen. Dass Elke Moltrecht das Ballhaus verlässt, ist für die Neue Musik in Berlin ein Verlust. Man kann ihr wünschen, dass sie recht bald einen neuen Ort für ihr Programm findet.

TIM CASPAR BOEHME