Geschichtsclash

Beim Soundspaziergang von „Stadt im Ohr“ entdeckt man die Frankfurter Allee zu Klängen von Hanns Eisler und das erste Hochhaus Ostberlins

VON MARTINA MESCHER
UND ANDREAS HARTMANN

Der Winter in Berlin ist kalt, dunkel, und draußen hält sich niemand gern freiwillig auf – harte Zeiten für Flaneure. In unseren wärmsten Winterklamotten – lange Unterhosen und Daunenjacken! – stehen wir tapfer vor dem Café Sybille in der Karl-Marx-Allee und bewegen uns nicht vom Fleck. Wir starren in das Café, tragen dabei Kopfhörer, und die Passanten um uns herum sehen uns an, als wären wir Touristen, die im August ihren Abflug verpasst haben.

Stimmt nicht, wir machen einen Audio-Spaziergang durch Friedrichshain und schließen an der ersten Station unserer Tour gerade Bekanntschaft mit Claudia, Georg und der Hündin Rosie. Die drei sind unsere akustischen Reiseführer durch den Kiez, die sich das seltsamerweise völlig außerhalb der Saison neu gestartete Tourismus-Projekt „Stadt im Ohr“ als Hauptdarsteller ihrer hörspielartigen Alternativ-Stadtführung durch Berliner Bezirke ausgedacht hat. Friedrichshain und Mitte sind bereits im Angebot. Claudia, so erfahren wir, ist 33 Jahre alt und angebliches Friedrichshainer Urgestein, das gelegentlich gekünstelt berlinert. Sie ist erstaunlicherweise naiv und gleichzeitig in Fragen von Architektur und Stadtplanung hoch bewandert. Immer weiß sie genau, welcher Architekt für welche Prachtbauten der ehemaligen Vorzeigeallee der DDR zuständig war, während sie zwischen ihren Erklärungen Rosie, Georg und auch uns befiehlt, beim roten Ampelmännchen stehen zu bleiben. Rosie macht immer wieder: Wuff!

Der beflissene Georg, ganz offensichtlich ein Wessi, ist an Claudias Ausführungen stets interessiert – wahrscheinlich auch ein wenig an Claudia – und einer dieser Touristen, die normalerweise keinen Schritt ohne ihren Baedecker in der Hand unternehmen. Zu unserem und Claudias Erstaunen besitzt er noch etwas viel Besseres als einen Kulturführer zum Rumblättern, er besitzt: den Entdecktor. Der schaltet sich immer wieder ein. Claudia ist meist genervt vom Entdecktor, dessen Faktenwissen ihres übertrifft, während wir langsam anfangen, Georg um dieses heiße Teil zu beneiden. Es versorgt uns mit Gassenhauern aus dem Sozialismus und hat Zugriff auf akustisches Archivmaterial und kurze Interviews mit Zeitzeugen. Ehemalige Mitglieder der DDR-Architektenkammer kommen zu Wort.

Wir bewegen uns zu den Klängen von Hanns Eisler zwischen den Vorder- und Rückseiten der Arbeiterpaläste, werden dabei mit Anekdoten über den DDR-Alltag gefüttert und stehen bald an der Weberwiese vor dem ersten Hochhaus Ostberlins. Obwohl wir zu Beginn der Route noch ganz arrogant dachten: „Friedrichshain – kennen wir, da werden wir wohl keine Überraschungen erleben“, sind wir jetzt beeindruckt. Dieses Gebäude ist uns vorher noch nie aufgefallen, und als Hochhaus würde man es mit seinen neun Stockwerken wohl heute auch nicht mehr bezeichnen. Der Körper ganz Bauhaus, mit einer Dachterrasse, vor dem Portal stehen Säulen, deren Marmor – Georg ist so erstaunt wie wir – aus der Villa von Hermann Göring stammt. Über der Tür ein Grußwort von Bertolt Brecht und in unseren Ohren eine Vertonung von dessen Lyrik: Das ist ein verwirrender Clash von deutscher Geschichte. Auf zweieinhalb Stunden ist die Audiotour angelegt, die mit Hilfe eines MP3-Players auch individuell verkürzt werden kann. Selbst Kiezbewohnern wird bei dem Streifzug nicht langweilig, was an der Kombination aus Historischem und aktueller Quartiersentwicklung liegt. So gibt es Interviews mit einer Betreiberin des Kinos Intimes, ehemaligen Hausbesetzern und Modedesignern. Georg hat zwar eben noch die mediterranen Aspekte der Frankfurter Allee entdeckt und sie zur Strandpromenade zurechtfantasiert, doch für uns ist der Sommer langsam so weit weg wie nie. Uns laufen die Nasen, und selbst der Entdeck- tor beginnt zu nerven, Claudia und Georg kriegen sich am Ende doch nicht. Vielleicht im Frühling.

www.stadt-im-ohr.de