„Konsens ist Gift!“

Die europäischen Sozialdemokraten sind lange dem Irrglauben gefolgt, dass es keine Alternative zum liberalen Kapitalismus gibt. Doch ihre Theorie vom Dritten Weg führt in die Sackgasse, sagt die Politologin Chantal Mouffe

CHANTAL MOUFFE, 64, ist Professorin für Politische Theorie an der University of Westminster in London und Mitglied des Collège International de Philosophie in Paris. Die gebürtige Belgierin forscht u. a. über den Aufschwung des Rechtspopulismus in Europa und gilt als eine der interessantesten linken Denkerinnen. 2007 erschien von ihr im Suhrkamp Verlag das Buch „Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion“.

taz: Frau Mouffe, Sie formulieren seit Jahren Kritik an der Theorie des „Dritten Wegs“, für den Tony Blair stand und den viele europäischen Sozialdemokratien eingeschlagen haben. Ist der „Dritte Weg“ mit dem Abgang von Blair und dem Wechsel zu Gordon Brown eigentlich Vergangenheit?

Chantal Mouffe: Na, ich kritisiere ja nicht ein spezifisch britisches Phänomen. Ich kritisiere eine Strömung, die heute in den fortgeschrittenen liberalen demokratischen Gesellschaften dominant ist. Die Idee, dass wir nach dem Fall des Kommunismus in einer Welt ohne Antagonismen leben und hier im Westen einen Konsens der Mitte haben. Die Mittelwegsideologie von New Labour hat das nur theoretisiert. Und dass Gordon Brown das Erbe Tony Blairs angetreten hat, ändert doch daran nicht viel. Brown war einer der Architekten von New Labour.

Trotzdem kann Gordon Brown erkannt haben, dass die Zeit dessen, was die Franzosen „pensee unique“, also das neoliberale „Einheitsdenken“, nennen, 2007 einfach vorbei ist …

Wir können nicht erwarten, dass es viele Änderungen gibt. Natürlich, in einzelnen Fragen kann Gordon Brown von Tony Blair abweichen. Aber nicht in den zentralen Fragen. „Es gibt keine Alternative zum liberalen Kapitalismus“ – das ist die konsensuale Auffassung dieser sozialdemokratischen Strömung. Wenn man das einmal akzeptiert, kann man im Grunde nur mehr verwalten – und keine Politik mehr machen. Das ist mein zentraler Kritikpunkt.

Warum eigentlich?

Weil demokratische Politik Alternativen braucht. Eine Demokratie kann ohne Parteilichkeit nicht existieren. Wenn ich den Menschen die Möglichkeit nehme, zwischen starken Alternativen zu wählen, dann nehme ich ihnen auch die Möglichkeit, sich mit politischen Projekten zu identifizieren, und dann öffne ich der allgemeinen politischen Passivität das Tor. Und damit riskiert man, dass rechte populistische Bewegungen erfolgreich sein können. Denn sie – und nur sie – repräsentieren dann noch die Alternative.

Das ist der Preis für die Auffassung, dass der liberale Kapitalismus die beste aller Ordnungen ist. Aber abgesehen davon: Ist er nicht die beste aller Ordnungen?

Das kann man wohl nicht wirklich behaupten. Nehmen wir nur den Klimawandel. Das Problem wird ohne gravierende ökonomische Transformationen nicht gelöst werden können. Ich möchte hier nur eines schon mal klarstellen: Ich bin nicht gegen Globalisierung. Es macht keinen Sinn, gegen Globalisierung zu sein. Es kann nur nicht so sein, dass es nur ein Modell für Globalisierung gibt. Es gibt viele Modelle in einer multipolaren Welt. Auch der Kapitalismus ist kein Monolith. Es gibt viele, sehr viele Varianten – solche mit wirksamen Regulierungen und solche ohne diese.

Es ist eine Sache, zu sagen, ohne Alternative wird Politik entpolitisiert. Eine viel schwierigere ist es allerdings, genau zu beschreiben, welchen Alternativen es gibt und wie sie funktionieren könnten.

Klar. Das ist der Kern unserer politischen Krisen. Die Sozialdemokratien und die bisherigen linken Parteien sind bei dieser zentralen Frage ausgefallen. Aber ich glaube, diese Schwäche liegt eben vor allem daran, dass sie sich zu sehr dem Dogma gebeugt haben, dass es einfach keine Alternative gibt. Deshalb kritisiere ich Theoretiker wie Anthony Giddens und Ulrich Beck. Sie analysieren nicht nur die „postideologische Welt“ – sie sagen auch noch, das Postideologische ist eine gute Sache.

Diese Theorien stellen also erst her, was sie analysieren? Sie sind in Wirklichkeit das Problem?

Genau so ist es. Und sie sagen, dass wir in einer konsensualen Welt leben, sei ein Fortschritt für die Demokratie. Dabei ist exakt das Gegenteil der Fall.

Einspruch! Die sozialdemokratischen Modernisierer sind doch keine bösen Leute. Sie reagieren doch nur auf den Fakt, dass die alte Basis der sozialdemokratischen Parteien weggebrochen ist und dass sie sich ihre Stimmen bei dem breiten Block der Mittelklassen holen müssen.

Nein! Die Parteiführer identifizieren sich mit der Mittelklasse. Aber das ist doch soziologisch ganz falsch, dass es keine Unterprivilegierten mehr gibt. Nur, die Probleme der einfachen Volksschichten werden politisch nicht mehr repräsentiert – außer, auf pervertierte Form, von den Rechtsradikalen. Diese Theorie, dass es politisch nur noch um die Besetzung der Mitte geht, haben zu einer regelrechten Krise der Repräsentation geführt. Es braucht eine neue Allianz der Mittelklassen mit den Unterschichten. Das wäre die Aufgabe der europäischen Sozialdemokratie. Und nicht, einfach einer imaginierten Mittelschicht nachzurennen.

INTERVIEW: ROBERT MISIK