VERWAHRLOSUNG
: Wir Halsabschneider

„Was haben Sie mit ihm gemacht?“, fragte mich Madame

Wenn unser siebenjähriger Sohn den Mund aufmacht, klingt das nach einem eklatanten Fall von Verwahrlosung. Nein, ich meine nicht die Schimpfwörter, die man so in der Schule lernt, sondern diesen Sound, der klingt, als habe er zwei Nächte durchgehend Bourbon getrunken und Gauloise gequalmt. Andere Kinder singen glockenhell im Weihnachtschor. Unser Sohn verdient sich sein Geld als Synchronstimme für Tom Waits.

„Das kann nicht normal sein“, sagen die Ärzte seit sieben Jahren. Und weil wir irgendwann anfingen, auch daran zu glauben, gingen wir zum Spezialisten. In die Charité. Auf Anraten des größten deutschen HNO-Papstes, den wir zufällig persönlich kennen, bekamen wir sogar direkt einen Termin beim zuständigen HNO-Kardinal. Alles war super. Sogar das Video, das von seinen Stimmbändern durch eine Sonde gemacht wurde, fand Stan cool. Wer hat das schon zu Hause? Da ließ er es sogar durchgehen, dass der Arzt ihm die rausgestreckte Zunge festhielt. Und das Ergebnis fanden wir Eltern dann auch voll in Ordnung: „Das verwächst sich mit der Pubertät.“ Wenigstens etwas, worauf wir uns dann freuen können.

Umso seltsamer fand ich den Blick, den mir die Mutter seines Schulfreundes an der französischen Grundschule am Nachmittag zuwarf. „Was haben Sie mit ihm gemacht?“, fragte mich Madame jetzt mit großen Augen. Kein Wunder. Unser Sohn hatte ihr auf Französisch erklärt, er sei bei einem Mann gewesen, der seine Zunge und seinen Hals untersucht hätte. Ein Mensch im weißen Kittel, die Umgebung steril, die Instrumente aus blitzendem Stahl. Und wo? Da hatte unser Filius trotz fünf Jahren in Paris und Einstufung als „Muttersprachler Französisch“ danebengegriffen. „Charité“ kannte er offenbar nicht. „Wir waren in der Charcuterie“, hatte er der fassungslosen Mutter erzählt. So nennt der Franzose die Fleischerei. BERNHARD PÖTTER