Im Radio lachen die Bischöfe

Die Weihnachtsverweigerung schien einst ein Zeichen des Erwachsenwerdens. Aber dann veränderten sich die Vorzeichen, und nur der Rückfall in die Kleinfamilie zählt. Das macht das Singleleben hart zwischen den Jahren

Die Menschen im Fernsehen kennen Einsamkeit höchstens für fünf Minuten

Es ist so still, seit der Antrieb weg ist. Eine graue Stille, die vom umgreifenden Beleuchtungsirrsinn nur müde aufgefangen wird. Fenster in Ketten. Es ist Weihnachten. Die Kirchen sind voll mit Verlierern und im Radio lachen die Bischöfe. An Weihnachten sagt man sich die Wahrheit, heißt es, ich habe kaum jemanden gesprochen. Es gab kaum eine E-Mail. Sally ist mit der Postkutsche in den Süden gefahren, zu ihren Eltern. Volle Restauration voraus.

Ich gehe spazieren. Eine baumlose Straße entlang. Den Hügel hinab in Richtung Mitte, dann über den Fluss zurück ins parolenbeschmierte Kreuzberg. Es ist schon erstaunlich, wie leer und staubig die Straßen der Hauptstadt jetzt sind, wie ausgestorben. Berlin im Winter ist wie Paris im Sommer. Ich denke an Sally und daran, wie sie ein letztes Mal winkte, als die den Fuß auf das Trittbrett der Kutsche setzte.

Stadtanspannung oder Landanspannung, ich habe mich für Ersteres entschieden. Es riecht nach Asche, nach verbrannter Kohle, vereinzelt flackern Lichtinstallationen in den Fenstern. Auch Loretta ist gefahren, sie nahm den Zug ins Ausland. Ich kenne die Leute nicht, die sie besuchen fährt. Ich habe eine Scheu vor Familien, was bis zu meiner eigenen reicht.

Ich habe Weihnachtsverweigerung immer als Zeichen des Erwachsenwerdens verstanden. Aber inzwischen haben sich die Vorzeichen geändert. Weihnachtsverweigerung, absichtliche Kinderlosigkeit, mehr oder weniger dauerhaftes Singledasein werden als postpubertär, als ewig unerwachsen verfemt. Der regressive Rückfall in die Kleinfamilie, das Comeback des Infantilen, die Absage an soziales Engagement, das jenseits der eigenen vier Wände stattfindet, wird als erwachsen, als Beweis von Verantwortungsbewusstsein gelobt. FIT FOR FAMILY, heißt der Slogan dazu. Er ist in großen Lettern auf den Seiten jedes Schlittens gesprüht, auch auf dem des Weihnachtsmanns.

Ich fahre ein Stück mit der U-Bahn. Auf dem Sitz gegenüber sitzt eine junge Frau. Sie studiert Notenblätter, sie isst Schokolade. Sie hat einen grünen Schirm dabei, an dem noch das Preisschild hängt, der Schirm hat 7,95 € gekostet. Sie ist klein, hat behaarte Unterarme, einen rot lackierten Fingernagel (den des linken kleinen Fingers), eine übergroße schwarze Plastikbrille, sie trägt einen grünen Schlabberpulli, schwarze Jogginghosen mit roten Nadelstreifen und zackige Stiefeletten. Sie ist jung, eine junge Berlinerin, eine gebürtige vielleicht. Sie streckt sich. Dann holt sie ihren MP3-Spieler raus und verstopft sich die Ohren. Die treibende Kraft eines abgerundeten Basslaufs. Akkordglück. Ob das Getacker in ihrem Ohr mit den Noten auf ihren Blättern synchron geht, weiß man nicht. Die Blätter sind in der Tasche verschwunden. Die junge Frau schaut nicht auf, sie schaut ins Leere, sie schaut vor sich hin. Wippt leicht mit den Beinen, unrhythmisch, als ob ein leiser Wind durch sie fahren würde.

Menschen im ÖPNV. Wozu schaut man sie eigentlich an? Eine Kennenlernzone ist die U-Bahn nicht unbedingt. Also, was guckt man? „Du schaust wie ein Single“, hat das mal jemand auf den Punkt gebracht. Man guckt, als ob es gleich losgehen könnte, hier in der Bahn. Das Sprechen. Tatsächlich wird weiter geschwiegen.

An der nächsten Station steige ich aus und gehe zur Bank. Auch hier lernt man niemanden kennen, man steht nur stumpf hintereinander im Vorraum herum. Kurz hatte ich das Bedürfnis, einen „Guten Tag“ zu wünschen, aber ich bin ja nicht hier angestellt. Während ich warte, überkommt mich kurz wieder das Gefühl, in der falschen Stadt zu leben. Es ist trist und kalt. Alle reden vom Klimawechsel, aber wo bleibt die Sonne? Hier ertönt keine erhellende Musik, wenn man die Straße betritt, hier haben die Wagen keine amerikanischen Nummernschilder. Hier gibt es keine Palmen, keine Sendezeiten und Sonntag wie Montag keine Post. Kein Geld in Umschlägen, keine Sonderposten aus Paris. Nur frische Scheine aus dem Geldautomaten. „Guten Tag, bitte führen Sie Ihre Karte ein“, meldet der Bildschirm. Ich erledige den Vorgang und muss wieder auf die Straße zurück.

„Studenten sparen! 1 Euro pro Besonnung bei Vorlage eines gültigen Studentenausweises“, steht auf einer Stehtafel vor einem Sonnenstudio. Ein Euro Tragedy Girl steht neben dem Eingang und raucht. Blicklos. Gegenüber trippelt eine Taube lustlos über den Gehsteig. Am warmen Tresen wartet die Kollegin. Der produktive Charakter anschaulichen Denkens. Beiläufig. Aber Haltung ist wichtig.

Was also tun über die Feiertage? Man streift herum, man sammelt, man sitzt daheim. Flüchtige Momente, sinnlose Buchstaben, ein Haus voll Zeit. Und viel Bildschirmliebe. Im Fernsehen laufen Aussteigerdokus. Hunde mit Ausweis. Große Wagen mit Sack und Pack. Die Verlockungen des Fernsehens.

Aber die Menschen im Fernsehen haben keine Gefühle. Nie haben sie Zahnschmerzen, nie haben sie eine Magen-Darm-Grippe. Sie kennen auch keine Einsamkeit, höchstens eine für fünf Minuten. Die Gefühle, die sie vorgeben zu haben, kauft man ihnen nicht ab. Nur das Lachen vom Band kann man persönlich nehmen. Zum Glück ist bald Silvester. RENÉ HAMANN