: Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht?
Acht nicht wirklich repräsentative, aber doch vertretbare Ansichten über das vergangene Jahr. Und darüber, was von ihm bleiben wird
JOSEF WINKLER ist Musikjournalist und taz-Kolumnist („Zeitschleife“)
FOTO: ARCHIV
Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht? Meine Blinddarmoperation im Februar. Ich bin jetzt – ganz anders als bisher – ein Mensch ohne Wurmfortsatz.
Bleibende Schäden? Aber hallo. Ich hab die Reha meiner letztjährigen Handverletzung verbaselt, und jetzt ist die Pfote tatsächlich bleibend geschädigt.
Frau des Jahres? Meine Mutter, konkurrenzlos 2007.
Mann des Jahres? Mein Vater, ebenso.
Buch? Ich erschließe derzeit neue Dimensionen der Trägheit, indem ich mir von meiner Liebsten „Der Schwarm“ (!) vorlesen (!!) lasse.
Platte? Wilco „Sky Blue Sky“, Rufus Wainwright „Release The Stars“.
Satz? „I can’t imagine mastering the skills involved here without a clearer understanding of who’s going to be impressed“ (Calvin).
Ort? Oh. Ah. Das Hotel Casbah in der Altstadt von Damaskus (WAS? Du warst in Damaskus? Ja. Geil, ne?), mit Deckenventilatoren und rauchendem Concierge und unseren Zimmern direkt zur Lobby, Atmosphäre wie in „Casablanca“. Und der Innenhof der Umayyaden-Moschee am Freitagabend; Familien schlendern, Kinder spielen, Diskutierende sitzen auf dem noch sonnenwarmen Steinboden, Schwalben kreisen im Abendhimmel, ein umfassendes, feierliches Empfinden von Frieden, Schönheit, Richtigkeit (wo kriegt man das noch?). Und das bezaubernde Städtchen Glurns in Südtirol. Und Sektion 110, Reihe H, Sitz 284 in der 02 Arena, London, am 10. Dezember.
Ökokonsum? Fairkaffee und Bioeier, aber immer noch nicht den Stromanbieter gewechselt – Schande! 2008, versprochen.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Ja mei, damit’s halt rockt. Und es gibt wirklich Unwichtigeres.
Was Neues entdeckt? Banal, aber: Man empfahl mir den irischen Comedian Dylan Moran und seine TV-Serie „Black Books“, ich entdeckte beide und kann mich jetzt nur mühen, die Kunde weiterzugeben: Leute, schaut „Black Books“, auf Youtube oder DVD.
JOSEF WINKLER
Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht? Alle fünfzigsten Geburtstage – eine andere Form von Hoffnungsgewittern.
Frau des Jahres? Marija Šerifović, ESC-Siegerin 2007 für Serbien, mit „Molitva“.
Mann des Jahres? John Kiriakou, Ex-CIA-Agent, Folter-Enthüller, USA.
Buch des Jahres? Thomas Karlauf: „Stefan George“.
Platte des Jahres? Melissa Etheridge: „The Awakening“
TV-Serie des Jahres? „Dr. House“
Satz des Jahres? „Ja, wir sind ein Paar“ (Anne Will auf die Frage von Bild am Sonntag zu ihrer Beziehung mit der Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel).
Ort? Der Nordpol – und Russlands umstrittene, weil lächerliche Besitzansprüche auf ihn.
Ökokonsum? Bio ist nicht alles – Verbraucherinformationsrechte sind wichtiger.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Weil man sich an irgendeinem historischen Mist abarbeiten muss, denn Rock ’n’ Roll ist super, Rock nur blöde.
Was Neues entdeckt? Immer wieder Neukölln als Lifestylelaufsteg.
JAN FEDDERSEN
Was hat Sie zu einem anderen Menschen gemacht? Obwohl ihr Bruder ein Jahrzehnt jünger war, lebte meine Tante 39 Jahre länger als er.Toll für sie. Während ihrer Beerdigung dachte ich, dass es nichts gibt, was ich als echte Alternative zum Altwerden in Erwägung ziehen möchte. Eins kam zum anderen und, ja: Ich will alt werden. Und meinen CO2-Ausstoß um 80 Prozent reduzieren.
Bleibende Schäden? SPD.
Frau des Jahres? Meine. Wir nehmen jetzt dieses scheinbar abgedroschene Statement und geben ihm eine neue Würde. Bei Oettinger, Seehofer, Wulff und solchen sind es immer die anderen Frauen. Bei uns sind es unsere. Cool.
Mann des Jahres? Al Gore.
Buch? „Teil der Lösung“ von Ulrich Peltzer.
Platte? „No.1 Hits“ von Erdmöbel. Und alles von Fountains of Wayne.
Satz? „Dummheit verdient keine Loyalität.“ Ist eventuell von mir.
Ort? Santa Cruz, Kalifornien, The Catalyst, July 6th, 2007. Konzert mit Stephen Stills. Das Baby-Boomer-Publikum legt die Krücken und Joints beiseite und singt a capella „Find the Cost of Freedom“. Dann humpeln sie raus und fahren in ihren Priusen zurück in ihre 700.000-Dollar-Häuser. Hätte nicht gedacht, dass mich so etwas rühren könnte.
Ökokonsum? Ist heute das, was früher Rock ’n’ Roll war. Ökostrom, Prius, mein A++-Kühlschrank: große Gefühle, total Bombe.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Weil the Music niemals over ist.
Was Neues entdeckt? Klaus Lemke.
PETER UNFRIED
JAN FEDDERSEN ist taz.mag- und tazzwei-Autor sowie Kolumnist („Parallelwelten“)
FOTO: MATTHIAS URBACH
Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht? Der Oberschenkelhalsbruch meiner 86-jährigen Mutter, die Tatsache, dass sie jetzt in einem Pflegeheim lebt und dass auch Söhne lernen müssen, jemanden zu bemuttern.
Bleibende Schäden? Fortschreitende Lichtung des Haupthaars.
Frau des Jahres? Fatmire Bajramaj, Simone Laudehr.
Mann des Jahres? Hätte nie gedacht, dass ich das mal schreiben würde: Franz Müntefering, weil er zum richtigen Zeitpunkt Sinn für Prioritäten bewiesen hat.
Buch: Dagmar Leupold, Grüner Engel, blaues Land.
Platte: Abbey Lincoln, „Abbey sings Abbey“.
Satz? „Iam tu melior es, tibi dico, anima, quoniam tu vegetas molem corporis tui praebens ei vitam, quod nullum corpus praestat corpori.“ Augustinus, Confessiones, 10. Buch. (So bist du denn, dir sag ich es, Seele, das Bessere, denn du durchdringst mit Kraft die Masse deines Leibes und verleihst ihm Leben, so wie es kein Körper einem Körper verleihen kann.)
Ort? Gut Gnadental
Ökokonsum? 2006 Riesling trocken ROTLIEGENDES vom Weingut Gies-Düppel, Birkweiler, nach den Richtlinien des „Kontrolliert umweltschonender Weinbau Pfalz e. V.“ an- und ausgebaut.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Wegen der Koteletten.
Was Neues entdeckt? Wiederentdeckt: meine alte Liebe zu Irland.
CHRISTIAN SCHNEIDER
Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht? Das Abitur meiner Tochter. Jetzt ist sie also wirklich erwachsen. Und für mich beginnt ein neuer Abschnitt.
Bleibende Schäden? Hoffentlich immer noch keine.
Frau des Jahres? Doris Lessing.
Mann des Jahres? Franz Müntefering
Buch? Doris Lessing: „Rückkehr nach Afrika“. Nein, es ist nicht in diesem Jahr erschienen. Sondern schon 1992. Was natürlich bedeutet: Es ist nicht einmal mehr lieferbar. Aber dennoch gehören die Reisen dieser späten Literatur- Nobelpreisträgerin in ihre Heimat Simbabwe, früher Rhodesien, zum Besten, was je über das postkoloniale Afrika geschrieben wurde. Sie sind wenigstens antiquarisch noch erhältlich. Und: Vielleicht darf man ja jetzt doch auf eine Neuauflage hoffen?
Platte? Dixie Chicks: „Not ready to make nice.“ Jaaaa, ist auch schon vom letzten Jahr, ich weiß. Aber immerhin hat die Gruppe dafür dieses Jahr bei den Grammys abgeräumt – und ich finde, dass der politische Mut der Country-Frauen ohnehin die Aufnahme in den 100-jährigen Bauernkalender rechtfertigt. Außerdem erscheinen bei YouTube nahezu stündlich neue Postings über dieses Lied. Was beweist: Es ist sehr, sehr, sehr aktuell …
Satz? „Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes.“
Ort? Die somalische Hauptstadt Mogadischu. Gerne jedes Jahr wieder. Solange sie eben ein Symbol für globale Machtpolitik, für vollständige Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen der Zivilbevölkerung und für brutale, imperialistisch motivierte Aggression bleibt.
Ökokonsum? Dazu fällt mir nichts ein. Zu Nicht-Öko schon. Aber danach bin ich nicht gefragt worden.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Gute Frage.
Was Neues entdeckt? Die USA. Und ich bin noch nicht fertig mit der Entdeckung.
BETTINA GAUS
Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht? Die Wonnen der Verantwortung. Der Versuch, neben weniger lässlichen Lastern auch das Rauchen aufzugeben. Das Scheitern.
Bleibende Schäden? Das Herminchen.
Frau des Jahres? Meine.
PETER UNFRIED ist stellv. Chefredakteur der taz und Kolumnist („Charts“)
FOTO: MARCO LIMBERG/X-PRESS
Mann des Jahres? Marco. Hatte er Sex? Wird er jemals wieder welchen haben? Und mein Bruder natürlich, ein Elitestudent mit eisernen Nerven und wunderschönen Füßen (hatte Sex, wird wohl immer wieder welchen haben).
Buch des Jahres? „Historien“, Herodot, der Hammer. Und selbstredend „Gute Marken, schlechte Marken“ (Fischer), ein unterhaltsamer Ratgeber von Stefan Kuzmany.
Platte des Jahres? „In The Aeroplane Over The Sea“ von Neutral Milk Hotel („What a beautiful face / I have found in this place / That is circling all ’round the sun“) Das Album erschien schon 1997 und ging damals sofort unter. Ich habe, ohne es zu wissen, zehn Jahre danach gesucht.
Satz des Jahres? „Man kann nicht zugestehen, dass ein Gott, ja nicht einmal, dass ein Mensch einer Turnübung entspringt, die von einem Grunzen gekrönt wird“ (E. M. Cioran in „Die verfehlte Schöpfung“ über das Wunder der Fortpflanzung).
Ort? Ketzin an der Havel, weil es sich am Lagerfeuer nach Mitternacht plötzlich anfühlte wie Kerala in Brandenburg.
Ökokonsum? Bin Vattenfall abhanden gekommen und Lichtblick auf den Leim gegangen. Habe gewöhnliche gegen sparsame Glühlampen eingetauscht – und meine langobardische Zicke (Guzzi) gegen eine bajuwarische Walküre (BMW) mit geregeltem Drei-Wege-Katalysator.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Weil Rost niemals schläft und Jimmy Page sich endlich nicht mehr die Haare färbt? Nein, weil ohne all das „Wiegen“ und das „Rollen“ unser Leben wohl ein trauriger Irrtum wäre, oder?
Was Neues entdeckt? Irgendwie blöd, aber interessant: Wie friedlich und berauschend zugleich unvernünftige 250 Stundenkilometer sich anfühlen können, wenn das Moped mal nicht flattert, sondern einfach nur rollt und sachte sich wiegt …
ARNO FRANK
Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht? Eine Sirene schrillt. Die Ersten im Redaktionsgebäude verlassen ordnungsgemäß den Raum, achselzuckend, wer sich wohl diesen unangekündigten Feueralarm zur späten Produktionsphase ausgedacht haben mag. Die anderen folgen, nach und nach. Zwei Stunden später wissen alle: Es handelte sich um eine Bombendrohung. Anonym eingegangen. Wer sollte eine linksliberale Zeitung in London in die Luft sprengen wollen? Alle lächeln angestrengt. Irgendein Irrer. Und unter dem angestrengten Lächeln, unter aller Gelassenheit liegt Angst. Die anstecken kann. London 2007.
Bleibende Schäden? Nazometer-Alarme. Wann wird es möglich sein, rechtskonservative-christlich-fundamentale, hilfsbedürftige PR-Frauen, formally known as Tagesschausprecherinnen, in dieser deutschen Medienlandschaft mit etwas weniger Aufmerksamkeit zu versehen?
Frau des Jahres? Britney Spears. Mamamania!
Mann des Jahres? Donald Tusk, Polens neuer Präsident.
Buch: „Esra“, Maxim Biller – hat das Zeug zur neuen Traumnovelle: Wann gibt es erste Geheimlesungen, mit Eintrittscodewort, für ausgewählte Verbotsbrecher?
Platte: „Untrue“, Burial – für die Nächte in London, wenn all die Finanzinvestorenbusinessbankermenschen schlafen
Satz? „Ja, wir sind ein Paar“ (Anne Will, Moderatorin von „Anne Will“, outet sich).
Ort? Die EINE Raucherzelle am Frankfurter Flughafen (Halle A, 2 Quadratmeter, keine Reservierung möglich).
Ökokonsum? Immer noch kein Auto, auch kein geliehenes. Verzicht zählt nicht? Vielleicht ja Ökopragmatismus: Was nicht dringend gebraucht wird, ist verzichtbar. Flüge just for fun, weil bequem, billig, cool. Plastiktüten im Supermarkt. Auto in Großstadt ohne Kinder.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Ist er das?
Was Neues entdeckt? Eine Wohnung in einer Hauptstadt in Europa, in der ein DSL-Anschluss dem Aufwand einer Mondlandung gleichkommt. Berlin? Ja.
CHRISTIAN SCHNEIDER ist Psychoanalytiker und taz-Autor FOTO: PRIVAT
SUSANNE LANG
Was hat Sie 2007 zu einem anderen Menschen gemacht? Die neue Spülmaschine.
Bleibende Schäden? Es fühlte sich an wie ein Erdbeben. Und es war auch ein kleines, als das Nachbarhaus einfach mal so in sich zusammenstürzte.
Frau des Jahres? Na gut. Anne Will von mir aus. Ganz schön spät aus dem Schrank gekommen, aber immer noch früher als Jodie Foster. Puh.
Mann des Jahres? Wie immer: Mein Landmann.
Buch: Kennen Sie das Bedürfnis, sich der aktuellen Bestsellerliste zu verweigern? Dann haben Sie sicher auch Verständnis dafür, dass ich „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen zum Buch des Jahres erkläre. Bücher verderben ja nicht. Sie verstauben höchstens im Regal.
Platte: Aus einem gewissen Verpflichtungsgefühl gegenüber der eigenen Vergangenheit erwarb ich das Tocotronic-Album „Kapitulation“. Da es sich um das einzige musikindustrielle Produkt handelt, für das ich in diesem Jahr richtiges Geld bezahlt habe, ist es für mich notgedrungen die Platte des Jahres.
Satz? Ich liebe dich.
Ort? Waren Sie schon mal in Guben? Cottbus ist ein Scheiß dagegen.
Ökokonsum? Kreidefarbe aus Rügen. Caspar David Friedrich für alle – aus dem Baumarkt.
Warum ist Rock ’n’ Roll noch wichtig? Als Beerdigungsmusik unschlagbar.
Was Neues entdeckt? Es reicht nie.
MARTIN REICHERT