„Demokratie braucht Zeit“

BETEILIGUNG „Mehr Demokratie“-Landeschef Oliver Wiedmann kritisiert die ablehnende Haltung des Senats zu den Vorschlägen der Opposition für mehr Bürgermitsprache

■ 40, ist Vorstandssprecher des Landesverbands Berlin/Brandenburg bei „Mehr Demokratie e. V.“.

INTERVIEW STEFAN ALBERTI

taz: Herr Wiedmann, der Senat hat die Vorschläge der Opposition zu mehr Bürgerbeteiligung komplett abgelehnt – was sagt das für Sie über den Senat aus?

Oliver Wiedmann: Ehrlich gesagt ist das nicht überraschend für mich, weil ja auch schon im Koalitionsvertrag eine entsprechend negative Formulierung enthalten ist.

Aber nach dem aus seiner Sicht verlorenen Volksentscheid gab es doch Ankündigungen, die Bürger nun früher und deutlich mehr zu beteiligen.

Zumindest hatte man das Gefühl, dass es die Einsicht gäbe, die Volksgesetzgebung verändern zu wollen. Aber jetzt, nachdem es vorbei ist mit der Olympiabewerbung, ist davon aus unserer Sicht nicht viel geblieben. Da es nun im September keine Bürgerbefragung über Olympia gibt, fühlt sich der Senat offenbar nicht mehr unter Druck, eine Debatte über mehr Beteiligung zu führen. Dabei hat Berlin durchaus noch Reformbedarf.

Wo beispielsweise?

Etwa bei den Quoren beim Volksentscheid. Die könnten aus unserer Sicht gesenkt werden.

Auch das lehnt der Senat mit der Begründung ab, die jetzige Regelung, bei der mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen müssen, habe sich bewährt. Dazu verweist er auf das erfolgreiche Begehren zum Tempelhofer Feld und das nur knapp gescheiterte im Herbst 2013 zum Thema Energie.

Genau diese beiden Beispiele zeigen eigentlich, dass was nicht stimmt.

Warum?

Der Energie-Volksentscheid wurde nicht an eine Wahl gekoppelt und hat das Quorum darum nicht erreicht, der Tempelhofer Volksentscheid war angekoppelt und hat das Quorum nur aus diesem Grund erreicht. Hätte der Volksentscheid nicht parallel zur Europawahl stattgefunden, wäre er nicht erfolgreich gewesen. Volksentscheide aber generell auf Wahltage zu legen, hat der Senat jetzt auch wieder abgelehnt.

Das Quorum soll ja davor schützen, dass im Extremfall bei geringer Abstimmungsbeteiligung eine kleine hoch motivierte Gruppe ihre speziellen Interessen durchsetzen kann.

Für uns ist das eine grundsätzliche Frage: Sollen die entscheiden, die hingehen? Oder die, die zu Hause bleiben? Bei Wahlen entscheiden auch nur die, die hingehen – wir plädieren da für eine Gleichbehandlung.

Dann müssten Sie doch dafür plädieren, auf jegliche Hürde, jegliches Quorum zu verzichten.

Genau, gar kein Quorum bei Volksentscheiden zu haben wäre konsequent. Die Erfahrungen zeigen, dass dort, wo ohne Quorum abgestimmt wird, nämlich in Bayern, die Beteiligung am höchsten ist. Das liegt daran, dass da jeder weiß: Wenn ich nicht mitstimme, kann ich auch nichts beeinflussen. Da sind beide Seiten gefordert, ihre Leute an die Urne zu bringen.

Der Senat hat mit all den anderen Gesetzentwürfen der Opposition auch den Vorschlag weggewischt, dass das Parlament eine Volksabstimmung beschließen kann.

Wir halten grundsätzlich das Konzept von direkter Demokratie von oben für sehr fragwürdig. Basisdemokratie kann ja naturgemäß nur von unten kommen. Sonst ist immer die Gefahr da, dass die Fragestellung manipulativ ist oder der Zeitpunkt bewusst ungünstig gewählt wird.

Dann kann es ja beim jetzigen Modell mit Volksbegehren und Volksentscheid bleiben.

Nein, denn es gibt ja mit fakultativen Referenden zu Parlamentsbeschlüssen eine Möglichkeit, die anderswo längst erprobt ist.

Auch das fordert die Opposition. Aber nach deren Modell reicht es aus, wenn von 2,5 Millionen Wahlberechtigten bloß 10.000 unterschreiben, um einen Parlamentsbeschluss vier Monate zu stoppen und dann darüber abstimmen zu lassen.

Der Vorschlag der Opposition ist ja zweistufig, 10.000 wäre ja nur die erste Hürde. Wir bei „Mehr Demokratie“ sind für insgesamt 50.000 Unterschriften, um ein Referendum einzuleiten. Und was das Aufschieben angeht: In der Schweiz ist es so, dass jedes Gesetz sowieso erst nach 100 Tagen in Kraft tritt. Demokratie braucht einfach Zeit. Man muss auch parlamentarische Beschlüsse in der Öffentlichkeit diskutieren können. Und ich halte da drei, vier Monate für nicht gravierend. Man kann sich ja auch überlegen, eilige Themenbereiche davon auszunehmen.

Auf Bezirksebene hat der Senat bereits zwei Mal Bürgerbegehren ins Leere laufen lassen, indem er Projekte an sich gezogen hat. Das Gleiche droht jetzt in Lichterfelde-Süd (siehe nebenstehenden Text). Für antidemokratisch hält der Senat das nicht: Man könne sich ja mit einem landesweiten Volksbegehren wehren.

Der Senat weiß genau, dass Volksbegehren zu einzelnen Bauprojekten in Bezirken keine Chance haben, weil das Interesse doch eher lokal ist.

Das haben beim Start der Volksbegehrens zum Tempelhofer Feld auch manche gedacht.

Aber da ging es um 4.500 Wohnungen. Aus meiner Sicht müssten eigentlich auch die Bezirksverordneten mal Alarm schlagen und sagen: Was bleibt uns hier im Bezirk eigentlich noch, wenn uns jetzt auch noch die Entscheidung über Bebauungspläne genommen wird? Beim Projekt Mediaspree wurde damit immer gedroht, aber es ist nie dazu gekommen, dass der Senat die Sache übernahm. Jetzt aber scheint der Damm gebrochen.