Das Schönste im Leben ist die Kette

Raus aus dem alten Leben, rein in ein neues Leben: als Umzugshelfer bei Freunden – ein manchmal eigentlich ganz interessantes Übergangsritual

Irgendwie angenehmer, Freunden beim Umzug zu helfen, als selber umzuziehen

Die Wohnung hatte schon bessere Tage gesehen, an die sie sich aber – aufgebracht, wie sie war – nicht mehr erinnern wollte. Alles war in Auflösung. In heller Aufregung strebten die Sachen auseinander. Die Dinge waren nicht mehr an ihren Orten, aber auch noch nicht in den Umzugskartons und die meisten Kartons noch nicht auseinandergefaltet. (Und wie man sie richtig falten sollte, verstand zunächst keiner.)

Die Männer-WG ging auseinander. Vor einem halben Jahr war B. recht überstürzt hierhergezogen, um in Ruhe endlich mit der Uni abzuschließen. Leider war alles dann doch nicht so gut gewesen. Die jeweiligen Macken der Einzelnen hatten sich nicht miteinander vertragen, die Wohn- und Lebensangewohnheiten einander widersprochen. Eine Mieterhöhung war hinzugekommen. Zurückblickend dachte B., dass man ihn eigentlich auf ein sinkendes Schiff gelockt hätte. Doch die anderen, die abwesend waren, hatten vielleicht auch gehofft, B., der Ältere, der Intellektuelle, würde ihnen neuen Schwung geben können, und waren enttäuscht.

Aber das sind nur Mutmaßungen. Das Kind war halt ins Bad gefallen. Das Schiff ging unter, und wir halfen B. bei seinem Umzug. Anfangs waren wir wenige; später wurden wir mehr. Teils hatten wir uns zuletzt bei seinem letzten Umzug, teils auf dieser oder jener Party gesehen. Der Erinnerungswert der Wohnung war gering. Nur einmal hatten wir hier zusammengesessen und Sun Ras „Space Is the Place“ geguckt; einen Film, der ja auch vom Umziehen handelt.

B. wirkte erstaunlich ruhig und versuchte mit seinem Headset Ordnung in die Geschichte zu bringen. Es gab die üblichen Kartons, aber auch alte Pappkoffer aus den 50ern, kleine Wildlederrucksäcke aus den 70ern, große Tramperrucksäcke aus den 80ern und Obstkartons, in die wir Sachen tun sollten. E. packte mit großer Sorgfalt die Kleider in Kartons, die sie dann zudeckte. Wir waren ein gutes Team, und schnell waren B.s Klamotten verpackt. Dann mussten wir alles wieder auspacken auf der Suche nach E.s Jacke, die ich versehentlich mit verpackt hatte.

Wir schraubten die Schränke auseinander und begegneten entschlossen den Herausforderungen widerspenstiger Schrauben. Alles war seltsam, wenn auch logisch: Das anfängliche Chaos ordnete sich. Wir bildeten eine Kette im Treppenhaus und alles war schön. Manchmal machten wir uns über komische Dinge aus B.s Besitz lustig. Oder jemand fragte: „Wohin mit den sinnlosen Brettern?“, und ein anderer antwortete: „Nimm die sinnlosen Bretter mit!“ Zwischendurch aßen wir Brötchen, tranken Cola und Bier und rauchten auf dem Balkon.

Die Sachen in die neue Wohnung zu bringen ging viel schneller, als sie aus der alten Wohnung rauszubringen. Die neue Wohnung war frischgestrichen und sah aus wie ein neues Leben, in dem wir es uns nach getaner Arbeit gemütlich machten, tranken, rauchten und redeten.

Das Schönste im Leben ist die Kette. C. erzählte lachend von einem komplizierten Doppelkettenumzug, bei dem sowohl die Freunde des Ausziehenden als auch die Freunde des gleichzeitig Einziehenden eine Kette gebildet hätten. Irgendwie wäre man dabei jedenfalls mit den Kartons durcheinandergeraten und das hatte dann noch zu langanhaltendem Ärger geführt. Ich trauerte einem verlorenen Hemd hinterher, das vor zwei Jahren bei einem Umzug verlorengegangen war. Lachend zählten wir die absurden Dinge auf, die wir in den letzten Jahren für Freunde hin und her getragen hatten.

Zwar ist es nicht the real thing, aber irgendwie doch angenehmer, Freunden beim Umzug zu helfen, als selber umzuziehen. Eigentlich waren die Umzüge auch lustiger als die Partys, die wir sonst miteinander feierten. Das lag wohl daran, dass niemand nach einem Gesprächsthema zu suchen brauchte, dass ersatzweise auch nicht die Suche nach einem Thema stundenlang thematisiert wurde; dass das Vergnügen des Zusammenseins von Leuten aus unterschiedlichen Lebensbereichen durch die gemeinsame, selbstbestimmte, sowohl angenehme als auch notwendige Arbeit geerdet war und irgendwann erledigt ist.

Wenn Geld mit im Spiel wäre, würde es natürlich keinen Spaß mehr machen. Wer um- und auszieht, befindet sich in einem gefährdeten Zwischenraum; ungeordnet stehen die Dinge als sinnlos gewordene beredte Zeugen des schlechten Alten im Zimmer herum; die Zukunft, die neue Wohnung, ist ein weißer Raum, der einem auch ein bisschen Angst macht. Der Umzug ist eine Initiation, ein Übergangsritual, bei dem man als Umzugshelfer wie ein Ministrant assistiert, und gleichzeitig – wie alle kultischen Veranstaltungen – ein funktionierendes Substitut, das tröstet, wenn man zu feige ist, selber umzuziehen. DETLEF KUHLBRODT