KLINIKUM FRIEDRICHSHAIN
: Mandelreste, Kippen

Am zweiten Tag nach der OP sitze ich vor dem Haupteingang

„Sind das Mandelreste, die ich da sehe?“, fragt mich die Ärztin, die mir einen Schlauch durch das linke Nasenloch schiebt, um sich in Ruhe meinen Hals angucken zu können, der so entzündet ist, dass ich nicht mehr schlucken kann, weshalb ich, bevor ich dehydriere, mich im Klinikum Friedrichshain notaufnehmen lasse. Die Mandelreste bereiten mir schon ein Leben lang Probleme. Vor über vierzig Jahren saß ich auf einem Stuhl, wurde von einem Krankenpfleger festgehalten, während der Arzt, wenn es denn einer war, was ich im Nachhinein bezweifle, mit einer Zange die Mandeln abknipste. Ohne Betäubung. Der Arzt sagte: „Warum geht denn diese Scheiße nicht raus?“, während er weiter herumknipste und ich ihm einen Schwall Blut auf seinen weißen Arztkittel hustete. Daraufhin verlor der Arzt die Lust und ich hatte Mandelreste.

Am zweiten Tag nach der OP sitze ich vor dem Haupteingang in der Sonne und betrachte die Welt nun mit den Augen aus einem neuen Lebensabschnitt, dem ohne Mandelreste. Neben mir sitzt ein großer Mann und telefoniert. Das erkennt man daran, dass er ab und zu ein Wort aus sich herausquält. Gegenüber sitzen zwei polnische Bauarbeiter in Bauarbeitermontur. Der eine redet und ich verstehe kein Wort. Den anderen verstehe ich perfekt, denn er sagt jede Minute einmal „tak“, und das heißt ja. Beide rauchen und um sie herum liegen viele Kippen. Eine Frau mit strähnigen, schulterlangen, ungekämmten Haaren, Zahnlücke und einem blauen Arbeitskittel nähert sich. In der einen Hand hat sie einen Plastiksack, in der anderen Hand eine Kippenauflesezange. Die Frau umkreist die beiden Polen, sammelt eine Kippe nach der anderen ein und steckt sie in den Plastiksack. Eine Kippe erwischt sie nicht, die liegt eingequetscht zwischen zwei Steinplatten. „Warum geht denn diese Scheiße nicht raus?“, sagt sie und geht zur nächsten Bank. KLAUS BITTERMANN