Schuldspruch gegen den Boston-Bomber

USA Ein Geschworenengericht hat den Angeklagten im Prozess um den Anschlag auf den Boston-Marathon in allen Punkten schuldig gesprochen. Ihm droht die Todesstrafe, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung in Massachussetts das vehement ablehnt

Die Regierung bestand auf der Option der Todesstrafe und zog das Verfahren an sich

AUS NEW YORK DOROTHEA HAHN

In allen 30 Anklagepunkten hat das Geschworenengericht in Boston Dzhokar Tsarnaev schuldig gesprochen. Welches Strafmaß ihn für seine Beteiligung am Anschlag auf den Boston-Marathon im April 2013 erwartet, ist noch nicht entschieden. Möglich ist die Todesstrafe nach Bundesrecht.

Der Angeklagte hatte seinen Prozess über geschwiegen. Er hat sich weder zu den ihm vorgeworfenen Taten noch zu den 92 ZeugInnen der Anklage noch zu den 4 ZeugInnen der Verteidigung geäußert. Auch am Schluss ließ Dzhokar Tsarnaev wieder nur seine Anwältin für ihn sprechen. Judy Clarke sagte in ihrem Schlussplädoyer, dass ihr Mandant seine Beteiligung an den Bomben in der Zielgeraden des Boston Marathon nicht leugnet. „Wir bestreiten das nicht“, sagt sie, „aber ohne Tamerlan wäre es nicht passiert.“ Es geht um insgesamt 4 Tote und mehr als 260 Verletzte in Boston.

Der sieben Jahre ältere Bruder, der in der mörderischen Raserei nach den Bombenattentaten im April 2013 selbst ums Leben gekommen ist, hat Dzhokar Tsarnaev mitgerissen, erklärt die Anwältin. Sie beschreibt ihren Mandanten als „Kid“. Sagt: „Er tat Teenager-Dinge.“ Und spricht über die Bewunderung, die Dzhokar Tsarnaev für seinen älteren Bruder empfand. Und den großen Einfluss, den Tamerlan auf den jüngeren ausübte.

Staatsanwalt Al Chakravarty beschreibt einen anderen Dzhokar Tsarnaev. Bei ihm ist der Angeklagte ein überzeugter Dschihadist. Der sich im Internet von radikalen Predigern wie Anwar al-Awlaki und von Onlineschriften wie dem al-Qaida-Blatt Inspire bekehren lässt. „Er hat den Rat von Inspire befolgt“, sagt der Staatsanwalt, „er hat ein Jahr lang ein Doppelleben geführt, während er die Anschläge vorbereitete.“

Die Frage war, ob der nunmehr 21-jährige Dzhokar Tsarnaev ein Überzeugungstäter oder selbst ein Verführter war. Seit Dienstag berieten die zwölf Geschworenen hinter verschlossenen Türen. Ihnen lagen 30 Anklagepunkte gegen Dzhokar Tsarnaev vor. Davon 17, die mit dem Tod bestraft werden können. Mit ihrem Urteil, ihn in allen Anklagepunkten schuldig zu sprechen, haben die Geschworenen der Mitläufer-Version eine klare Absage erteilt.

Niemand in dem Bundesgericht in Boston zweifelte an einem Schuldspruch. Dafür sorgten Videos, die ihn beim Deponieren eines mit Sprengstoff beladenen Rucksacks inmitten der Zuschauermenge am Rand des Marathons zeigen. Dafür sorgten Bombenanleitungen auf seinem Computer. Zeugenaussagen. Und ein mit Blut bespritzter Brief, den Dzhokar Tsarnaev geschrieben hat, als er sich auf der Flucht vor der Polizei in ein Boot in einem Bostoner Garten geflüchtet hatte. Darin begründete er die eigene Gewalt unter anderem so: „Wir Muslime sind ein Körper. Wer einen von uns angreift, greift alle an.“ Hinzu kam das Schuldgeständnis, mit dem seine Anwältin den Prozess eröffnet und geschlossen hat.

Judy Clarke ist die erfolgreichste Verteidigerin von Todeskandidaten in den USA. Unter anderem hat sie den Serienmörder Theodore Kaczynski alias „Unabomber“ und den Todesschützen Jared Loughner vor der Hinrichtung bewahrt.

Anders als bei früheren Prozessen haben die Verteidigerin und der Angeklagte in Boston eine Mehrheit der Öffentlichkeit auf ihrer Seite. Massachusetts hat die Todesstrafe im Jahr 1982 abgeschafft. Während des Prozesses haben alle Meinungsumfragen gezeigt, dass die Mehrheit der Bewohner von Massachusetts auch nach den Marathonbomben ihre liberale Grundhaltung bewahrt haben. An jedem einzelnen Verhandlungstag standen Menschen mit Schildern gegen die Todesstrafe vor dem Gerichtsgebäude. Und immer wieder sprachen sich Überlebende und Angehörige von Opfern gegen eine Hinrichtung Tsarnaevs und für eine lebenslange Haftstrafe ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung aus.

Gleichzeitig kritisierten Juristen, dass die Prozesskosten unnötig in die Höhe getrieben würden. Wäre der Fall vor einem Gericht des Bundesstaates verhandelt worden, so eines ihrer Argumente, wäre Dzhokar Tsarnaev bereits verurteilt und säße lebenslänglich hinter Gitter.

Doch die US-Regierung bestand auf der Option einer Hinrichtung. Sie nahm das Verfahren aus den Händen der Justiz von Massachusetts und übergab es einem Bundesgericht mit Sitz in Boston. Das Gericht prüfte bei ihrer Berufung in die Jury alle Geschworenen in einem umständlichen und langen Verfahren auf ihre Bereitschaft, den Angeklagten möglicherweise zum Tode zu verurteilen.