Mit Turnschuhen in den Cäsiumstaub

■ Eine überforderte Regierung versucht, mit dem Strahlen–Unfall in Brasilien fertigzuwerden

Ein bislang unverdächtiger alter Röntgenapparat war die Ursache des größten Strahlen–Unfalls nach Tschernobyl. Doch weder diesem Apparat noch dem Mann, der ihn aus einem verlassenen Gebäude in Goiania gestohlen und in Unkenntnis seines tödlichen Inhalts auseinandergenommen hatte, ist die Schuld zuzuweisen. Verantwortlich ist eine schwerfällige und nachlässige Bürokratie, die auch nach der Katastrophe nicht in der Lage ist, die Folgen in den Griff zu bekommen.

Goiania, eine über eine Million Einwohner zählende Stadt, 220 km südwestlich der Bundeshauptstadt Brasilia, war der letzte Ort, den man als Stätte eines Atomunfalls verdächtigt hätte. Der einzige Bezug des Bundesstaates Goias zur Atomenergie bestand bisher darin, daß hier Uran für den Betrieb von Atomkraftwerken gewonnen wird. Bis vor einem Monat, als die Landeshauptstadt von Goias zum Schauplatz einer Tragödie wurde, war der Umgang mit radioaktivem Material in den medizinischen Zentren und in der Industrie ein unbeschriebenes Blatt. Für Goiania kam die Atombedrohung nicht durch einen Unfall in einem Atomreaktor, sondern durch ein paar Hammerschläge im Hinterhof eines Schrottplatzes. Gegenstand des Unglücks war ein Gerät, dessen breite Verwendung nirgends mehr in Frage gestellt wird. Ein Monat ist vergangen, aber erst vor drei Tagen wurden die Entsorgungsarbeiten aufgenommen. Ein mit Geigerzählern ausgerüsteter Hubschrauber hat am Wochenende elf verseuchte Stellen im Zentrum Goianias festgestellt. Die vermutete Befürchtung, das Trinkwasser könne mit den Regenfällen der letzten Tage verseucht sein, wurde von den Technikern des Nationalrates für Kernenergie (CNEN) nicht bestätigt. Das Stadtzentrum wurde zunächst wegen der Dekontaminierung für Autos und Menschen teilweise gesperrt. Direkt von der Strahlung betroffen wurden 243 Menschen, die aus ihren Häusern evakuiert werden mußten. Viele andere haben aus Angst ihre Häuser in der Umgebung der verseuchten Stadtteile verlassen und sind bei Verwandten untergekommen. Rund 40.000 Menschen wurden bisher auf Radioaktivität untersucht. Zehn Menschen, die direkt mit den radioaktiven Teilen des Röntgengerätes in Berührung kamen, sind schwer erkrankt. Verbrennungen an den Händen, Gesichtern und Beinen, Erbrechen und Haarausfall sind das traurige klinische Bild. Dem Patienten Roberto Aves wurde jetzt der rechte Unterarm amputiert. Er hatte zusammen mit einem Freund die stillgelegte Cäsium–Bombe aus dem verlassenen Hospitaltrakt herausgeholt. Die verstrahlten Opfer wurden nach Rio de Janeiro zur Behandlung gebracht. Dort existiert das einzige Krankenhaus in ganz Brasilien - mit lediglich 12 Betten - das in der Lage ist, radioaktiv bestrahlte Patienten zu behandeln. Sie werden mit weißen Blutkörperchen versorgt, die gleiche Behandlung wie für die Opfer von Tschernobyl. Ihre Überlebenschancen sind jedoch sehr gering, da sie Bestrahlungswerte von 700 bis 1.200 Rem aufweisen. Bei nur 400 Rem Bestrahlung sind die Überlebenschancen in den folgenden 30 Tagen 50 Prozent. Weitere 22 Personen sind in Krankenhäusern Goianias zur Dekontaminierung interniert. 125 Personen werden ambulant behandelt. Die Bevölkerung ist mißtrauisch Die Angst vor einer Strahlenverseuchung hat die Wirtschaft Goianias stark beeinträchtigt. Das Handelsvolumen sank auf 40 Pro zent und viele auswärtige Aufträge wurden zurückgezogen. Während sich die Radioaktivität in Tschernobyl durch eine strahlende Wolke schnell verbreitete, ist sie in Goiania in Staubform auf bestimmte Stellen lokalisiert. Die hauptsächliche Verbreitungsgefahr bestand in den Regenfällen der letzten Tage. Das Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber der offiziellen Erklärung, das Grundwasser sei nicht verseucht, ist angesichts der fehlenden Professionalität und des kläglichen Krisenmanagements mehr als berechtigt. Bei den Entsorgungsarbeiten fehlen den Technikern die einfachsten Mittel wie geeignete Bekleidung, Schuhe, Handschuhe, Schutzmasken. Sie laufen in den abgesperrten Gebieten mit Turnschuhen, einfachen Monteuranzügen und ohne Masken herum, wenige tragen Schutzkittel aus Blei oder einen Mundschutz. Von ähnlichen Zuständen wird aus den Krankenhäusern berichtet, wohin die Verseuchten eingeliefert werden. Auch unter dem Krankenhauspersonal soll es bereits Hilfskräfte geben, die eine hohe Strahlungsdosis abgekriegt haben. Über Umwege hat die Radioaktivität jetzt auch Sao Paulo erreicht. Lastwagen mit Altpapier und -eisen aus Goiania sollen radioaktiv verseucht gewesen sein. Aber auch hier sind die Auskünfte widersprüchlich. Während das Forschungsinstitut für Kernenergie IPEN die Werte als „niedrig bis unbedeutend“ wertet, spricht der CNEN von „Problemen“ in einigen Orten, wo sich die Transportwagen aufgehalten haben. Die Verseuchung wurde erst bekannt, weil ein Unternehmer, der Teile der Ladung kaufte, diese auf Radioaktivität hatte untersuchen lassen. Umstritten ist, wann die Entsorgungsarbeiten in den verseuchten Stadtteilen Goianias abgeschlossen sein werden. Der Physiker Julio Rosental vom CNEN glaubt, daß es ein Jahr dauern wird. Sein Chef Rex Nazareth hofft, daß die Arbeiten in den nächsten 15 Tagen beendet sein werden. Man vermutet angesichts dieser gegensätzlichen Einschätzungen, daß anstatt einer technischen eine politische Entsorgung gesucht wird und daß die verseuchten Stellen früher freigegeben werden, als dies aus gesundheitlichen Gesichtspunkten vernünftig wäre. Die Suche nach den Schuldigen Gegen die drei Besitzer des ehemaligen chemotherapeutischen Instituts in Goiania, die das stillgelegte Röntgengerät in dem stillgelegten Gebäude hinterlassen haben, sowie der Chefarzt der Röntgenabteilung wurde inzwischen wegen schwerer Körperverletzung Strafanzeige gestellt. Bei den zu erwartenden Todesfällen unter den Strahlenopfern kommt auf sie noch die Schuldenlast einer fahrlässigen Tötung zu. Die Ärzte wollen jedoch nicht allein die Schuld auf sich nehmen. Sie werfen der CNEN vor, die Aufsichtspflicht über alle Strahlungsquellen in Brasilien verletzt zu haben. Das fragliche Röntgengerät war 1974 zum letzten Mal überprüft worden. In ganz Brasilien ist inzwischen die Diskussion um ein mögliches Atommüll–Lager entbrannt. Die durch das Cäsium–137 verseuchten Autos, Haushaltsgeräte, Möbel, Tiere und Trümmer der abgerissenen Häuser müssen eine sichere letzte Ruhestätte finden. Außerdem wird sehr viel kontaminierte Erde abgetragen. Aber wohin damit? Der Atommüll soll eingesammelt, in Trommeln verpackt und zuletzt in Containern versiegelt werden. Diese Fracht soll dann in gepanzerten Wagen nach Serra do Cachimbo gebracht werden. Serra do Cachimbo, „der Pfeifenhügel“, war bis zu seiner Enthüllung durch die Zeitung A folha de Sao Paulo letztes Jahr als mögliche Versuchsanlage für Atomtests und Atommülldeponie ein geheimes Projekt der Armee. Die Endstation des Atommülls ist seit ihrer Ankündigung zum Brennpunkt der Auseinandersetzung geworden. Der Gouverneur von Para hat Präsident Sarney für dessen unglückliche Idee scharf kritisiert. Sein Bundesstaat sei keine „Müllhalde“. Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, eine einstweilige Verfügung gegen Präsident Sarney und CNEN–Präsident Rex Nazareth beantragen zu wollen, um zu verhindern, daß radioaktiver Atommüll in Para deponiert wird. Die Indianerbehörde Funai in der Hauptstadt Brasilia ist ebenfalls hell empört über die Aussicht eines Atommüll–Lagers in Serra do Cachimbo. Die Indianervölker leben just in diesem Gebiet. Der Gouverneur von Goias hat seinerseits in einer Stellungnahme, die er in allen großen Zeitungen veröffentlichen ließ, darauf bestanden, daß der Atommüll nicht im Bundesstaat Goias deponiert werden darf. Der Fall soll nun im Kongreß behandelt werden. Für die Experten ist Serra Do Cachimbo als Atommülldeponie nicht geeignet. Die geologische Zusammensetzung des Bodens sowie die hohen Niederschlagswerte könnten die Flüsse und das Grundwasser radioaktiv belasten. CNEN–Präsident Rex Nazareth sieht zwar diese Gefahr, seiner Meinung nach bliebe jedoch nichts anderes übrig. „Noch eine der Schnapsideen“ von Präsident Sarney kommentiert ein Regierungsfunktionär den Vorschlag, jeder Bundesstaat solle seine eigene Atommülldeponie bauen. Bei der Leichtsinnigkeit und Inkompetenz im Umgang mit radioaktivem Material würde dieser Vorschlag das Katastrophenrisiko auf das ganze Land ausdehnen. Genau einen Monat vor dem Atomunfall in Goiania hat der Präsident die Kapazität seines Landes zur Urananreicherung stolz verkündet. Jetzt ist er nicht einmal in der Lage, mit dem Inventar eines alten Röntgenapparates fertigzuwerden. Dafür stellte er sich letzte Woche publikumswirksam mit Schutzanzug und Handschuhen an die Betten der Strahlenopfer, um seine große Betroffenheit auszudrücken. Nach dem Besuch ließ er sich ausmessen und zelebrierte die Sorgfaltspflicht der Behörden. Das Meßgerät zeigte auf Null, eine jederzeit passende Zahl. Cleyde Souza