K O M M E N T A R Vergangenheitsbewältigung

■ Zur Auseinandersetzung über den Stalinismus in der UdSSR

Auch die Menschen in der Sowjetunion tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit. Die zu uns dringenden (und dementierten) Meldungen über die Vernichtung von Archiven über die Stalinzeit, der Gegenwind für Gorbatschow bei seinem Anspruch, weitere Opfer des Stalinismus und ehemals in Ungnade gefallene Größen der Partei zu rehabilitieren, sind die Spitze eines Eisbergs und beileibe nicht nur das Problem der Partei. Während in der Literatur (“Die Kinder des Arbat“) und im Film (“Reue“) heute wieder die heißen Eisen der Vergangenheit angepackt werden, ist so mancher in der Parteihierarchie, aber auch im Volk nicht bereit zuzugestehen, daß früher alles falsch gewesen sein soll. Gerade in Deutschland sollte man aber vorsichtig sein, hämisch den Zeigefinger in Richtung Osten zu erheben. Denn die ältere Generation in der Sowjetunion hat in ihrem Leiden eine ungeheure Kraft entwickelt, nämlich die, trotz des Stalinismus einen barbarischen Krieg zu bestehen und zu gewinnen. Stalin steht so für einen teuer erkauften Sieg über Deutschland und den Nationalsozialismus und für den Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht. So ist da durchaus ein Unterschied zu den Deutschen, wenn sich Sowjetbürger mit der Offenlegung der Vergangenheit schwer tun. Denn in der Sowjetunion ist nicht nur wie bei uns die individuelle und kollektive Verdrängung der im „Namen des Volkes“ begangenen Verbrechen das Motiv für die Angst vor der Vergangenheit, sondern auch die Angst vor dem Eingeständnis prägend, daß die von Stalin geforderte und bis heute wirksame „Einsicht in die historische Notwendigkeit“ den Archipel Gulag nicht zu rechtfertigen vermag. Der neue ungetrübte Blick in die Geschichte eröffnet die Kritik am eigenen Geschichtsverständnis und rüttelt an der noch gültigen Denkweise und Identität der sowjetischen Gesellschaft. Wenn aber alles in Frage gestellt wird, was für viele als unumstößliche Wahrheit gilt, tut sich ein Vakuum auf. Wenn gerade in der Zeit des Wandels und der neuen Ideen schon die Reaktionen sichtbar werden, die für die Sehnsucht nach Ordnung stehen, heißt das noch nicht, daß die Zeit der Vergangenheitsbewältigung schon abgelaufen wäre. Denn eine Reform der Gesellschaft ist ohne die Bewältigung der Vergangenheit und damit der alten Denkstrukturen nicht mehr möglich. So gesehen ist die Auseinandersetzung um die Interpretation der Geschichte zum politischen Machtkampf geworden. Erich Rathfelder