„WELT AN KRÜCKEN“

■ Das Neue Aktion Theater spielt „Wheelchair Willie“

„Wheelchair Willie“ (Rollstuhlfahrer Willie) von Alan Brown ist ein bitterböses, monströses Stück. Und es verwundert nicht, daß der englische Autor immer wieder Schwierigkeiten hatte, ein Theater zu finden, das dieses Stück auf die Bühne bringt. Denn auch, wenn der Protagonist ein Rollstuhlfahrer ist, so stellt sich doch bald heraus, daß nicht „Behindertenproblematik“ aus Sozialarbeitersicht im Zentrum des Geschehens steht, sondern die Arbeitslosen, Verwahrlosten und Aufgegebenen am Rande der Gesellschaft in ihren gegenseitigen psychologischen Behinderungen gezeigt werden. Und die werden vom Neuen Aktion Theater schauspielerisch und inszenatorisch professionell auf das gerade noch erträgliche Maß verdichtet.

Bestimmend für das Lebensgefühl ist eine erschreckend explosive Mischung aus Resignation und Brutalität. Der letzte Film „The Last of England“ von Derek Jarman erzählt davon, wie auch die motorische Unruhe der von Lehrern aufgegebenen Schüler in Robby Müllers Verfilmung der Steinschen „Klassenfeind„-Inszenierung.

Selbstverständlich wurde Willie (Jörn Burmeister) unehelich und ebenso unerwünscht geboren wie seine Schwester Susi (Jana Kalina). Ihre Mutter (Ella Dreyer) lebt von der Sozialhilfe und einer bunten Tablettenmischung. Sie ist mit den Kindern, aber eigentlich schon mit sich selbst völlig überfordert. Ab und an taucht in ihrem Leben ein nichtsnutziger oder alkoholisierter Mann auf, dem sie sich dann wehrlos ausliefert in der blinden Hoffnung auf ein wenig Liebe oder zumindest materiellen Vorteil aus diesen Verhältnissen. Nichts davon ist der Fall, außer dem Fall die soziale Stufenleiter hinab.

Im zweiten Akt der traurigen Lebensgeschichte hat der Fernsehmechaniker Ted (Heiner Hardt), der blieb, um für die dilettantische Reparatur des TV einen Quickie auf der Bettkante zu fordern, den behinderten Willie bereits aus der Wohnung vertrieben. Schwester Susi, bis dahin Willies treuherzige Vertraute, wurde bereits zum dritten Mal geschwängert, Angus (Peter Thiele), der Vater von Susi, kommt nach 16 Jahren zu seiner Frau zurück, als wäre er gestern gegangen und bringt seine Lebensgefährtin, eine zur Beate-Uhse-Puppe umgebaute Schaufensterschönheit, gleich mit. Die gynäkologischen Umbauten hat dieser handwerkende Fernfahrer an seinem Modell selbst vorgenommen. „Ich war halb mit dem zweiten Loch fertig, da ist mir der Bohrer abgebrochen“, berichtet er und will so seine Rückkehr motivieren. In der Verdichtung gewinnt diese Horrorwelt absurde Züge, die den erschrockenen Zuschauer, weil Larmoyanz vermieden wird, die Welt aber plötzlich unerträglich bestialisch und gleichzeitig banal ist, in ein Gelächter über den Irrsinn auf der Bühne treibt. Denn unbeteiligt bleiben kann man bei der entstehenden Spannung kaum. Da sitzt zum Beispiel Willie in seinem Rollstuhl, es wird berichtet, Fremde hätten sich an ihm vergangen, ihn vewrstümmelt, die Zunge herausgeschnitten und hat eine Packpapiertüte über den Kopf gestülpt. Man fühlt sich an David Lynchs „Elephantenmenschen“ erinnert und phantasiert hinter diese Papierwand einen größeren Schrecken, als er gezeigt werden könnte.

Mitten in dem allgemeinen Chaos - draußen liefert die rechtsradikale National Front eine letzte infernalische Schlacht - taucht Willie vergoldet als deus ex machina wieder auf und rezitiert befremdlicherweise aus Finnigans Wake von James Joyce.

Bis auf diesen wenig überzeugenden und verständlichen Schluß des Stücks, der nur dem verzweifelten Wunsch nach einer Utopie entsprungen sein kann, war sonst an der ganzen Aufführung in der Studiobühne nichts Überflüssiges zu entdecken. Trotz, oder gerade wegen der Kulturüberfütterung im Berliner E 88-Zoo springt bei dieser Aufführung am Rande des Rummels ein authentisches Gefühl über. Wenn dem Behinderten die Zunge herausgeschnitten wird, oder der Säugling erstickt wird, erschrickt man darüber so, wie bei einer Achterbahnfahrt; man fällt, ist gefangen und Aussteigen ist unmöglich. Dagegen erschienen manche der Premieren der letzten Wochen wie bunte Zuckerwatte; pappig und wenig nahrhaft.

Susanne Raubold

Das Neue Aktion Theater spielt „Wheelchair Willie“ bis zum 10.Juli um 21 Uhr in der Studiobühne, Reinickendorfer Str.55, U-Bahn Nauener Platz.