Alltag in der Koninklijke Muntschouwburg

■ Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“ in Brüssel

Frieder Reininghaus

AAuf nach Brüssel! So lautet seit einiger Zeit der Lock- und Schlachtruf der bundesdeutschen Opern-Feinschmecker: Es heißt, in der belgischen Hauptstadt werde das hochkarätigste Musiktheater verabreicht. Dessen Räume sind ja traumhaft das kleine Theatre Royal du Parc ebenso wie das große Haus am Münz-Platz, das als einer der gelungensten Theaterbauten des vorigen Jahrhunderts gelten darf und in einer Zone angenehmster Gastronomie liegt. Und dann gibt es dort immer wieder das, was in die Theatergeschichte als Sternstunden eingeht.

Nun war gar die erste Aufführung einer Oper von Franz Schreker in Belgien angekündigt: Der ferne Klang sollte, von Johannes Schaaf inszeniert, durch Christoph von Dohnanyi musikalisch geleitet werden. Also auf nach Brüssel!

Dohnanyi war zusammen mit Anja Silja als Primadonna, quasi im Doppelpack, eingeholt worden. Aber dem Dirigenten paßte die Arbeitsweise des Regisseurs nicht. Er reiste ab. (Als ob es unter den Profis in der Branche die geringsten Unklarheiten gäbe, was auf sie zukommt, wenn sie sich aufeinander einlassen.) Ingo Metzmacher sprang in die Lücke und übernahm den Dirigenten-Part. Dieser junge Kapellmeister hat sein Handwerk unter Michael Gielen an der Frankfurter Oper gelernt und brillierte zuletzt am Musiktheater im Revier bei Hajo Fouquets Zauberflöten-Inszenierung und mit Kurt Weills Silbersee. Im Geist der Moderne geschult, befleissigt sich Metzmacher einer klaren und akuraten Zeichengebung. Schrekers feiner Klang jedoch benötigt einen Hauch mehr.

Der Komponist hat beim Fernen Klang einen Abschied an den anderen gereiht und alle diese Abschiedsbilder mit ebenso glühender wie unerfüllter Sehnsucht ausgestattet, koloriert mit delikater Instrumentierung. Dieser ferne Ton will emphatisch nahegebracht sein und mit dem Gespür für feinste Schwebungen. Metzmacher schlug sich wacker; er führte das Orchestre Symphonique de L'Opera National zum guten tristen Schluß - eine betörende, zu hymnischem Lob berechtigende Interpretation des (stellenweise) brüchigen Werkes gelang ihm freilich nicht.

Als die Premierengäste in die Koninklijke Muntschouwburg, das Theatre Royal de la Monnaie strömten, teilte ihnen die Direktion per Aushang mit, daß auch der Regisseur (ohne Angaben von Gründen) die Endproben im Stich gelassen und der Hausherr, Gerhard Mortier, die Produktion weitergeführt habe. Die von Xenia Hausner entworfenen Bühnenbilder setzen sich in klaren Kontrast zum opulenten Schmuck des Opernhauses. Schmale Fenster und Türspalte, kahle Wände und viel Grau deuten die Enge der kleinbürgerlichen Lebenswelt an, in die Grete und ihr Liebhaber Fritz eingezwängt sind. Diesem Milieu entsprang das Stück. Schreker schrieb es im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, in der schwierigsten Zeit seines Lebens, als er in Wien noch als Kontorist seinen Unterhalt heranschaffen mußte.

Ein schräger Weg ist Leitmotiv der Brüsseler Inszenierung. Zunächst dient er als Kegelbahn, auf der Vater Graumann das kleine Vermögen verspielt und seine Gretel an den Wirt verschachert, bei dem er in der Kreide steht. Das Gretchen ist ohnedies gerade schlimm dran, denn ihr Fritz verläßt sie. Der angehende Tonkünstler will sie auf seinem Weg hinaus in die (Kunst-)Welt nicht am Hals haben. Durch einen raschen Kulissenwechsel führt die Bahn dann als Straße über einen Alpenkamm und durch eine Felseneinöde. Zuerst für Fritz, danach für Grete.

Im zweiten Akt feiert die Graumann in Venedig mit einigen anderen Damen ein rauschendes Fest. Hinter den Fenstern des kalt gekachelten Etablissements die Wellen der Lagune, stark bewegt. Das ist freilich das einzige Bewegende an diesem Bild zur musikalischen Orgie; das kühle Ambiente mag der mangelnden Ausstrahlungskraft der Hauptakteurin Silja Rechnung tragen. Komponist Fritz platzt in das dekadente Treiben, glaubt zunächst ein „Blendwerk aus ferner Zeit“ zu sehen, erkennt dann in Greta seine Jugendgeliebte, die er dem Ehrgeiz geopfert hatte: „Schuldbeladen und reuig stehe ich vor dir.“ Er will sie als „sein süßes Weib“, bis er bemerkt: „Mein Liebchen sitzt tief in der Schande.“ Mit Verachtung eilt er von dannen: zurück zu seinem Lebenswerk.

Mit einer großen Oper Die Harfe erleidet er freilich Schiffbruch, weil das Finale mißriet. Der Egomane kommt zur Einsicht, daß das Schaffen doch den Verzicht aufs Leben nicht wert sei. Die ziemlich heruntergekommene Greta findet ihn, aber da ist er auch schon fertig mit dem Leben.

Xenia Hausners Bühnenbild greift für den Schluß die Bildmotive des Anfangs wieder auf: Auch der letzte Weg des gescheiterten Künstlers und der „gefallenen“ Frau führt durch den engen Türspalt.

Das Stück krankt nicht nur am profanen Liebestod, durch den Fritz „erlöst“ wird. Der ferne Klang, vom Text so oft beschworen, verfügt kompositorisch nicht über die Charakteristik und Eindringlichkeit des Tristan-Motivs, das mit dieser Oper überboten und überwunden werden sollte. Dazu kommt wohl noch, daß der genialische Fritz wenig Sympathien weckt und das (Musik-)Theater des 20. Jahrhunderts interessantere Künstlerfiguren auf die Bühne gebracht hat - bei Lulu oder mit Baal.

Daß die von Johannes Schaaf konzipierte und unfertig gebliebene Inszenierung mit den Problemen und Qualitäten des Stückes produktiv umgegangen wäre, davon war nichts zu sehen. Mir erschien das Treiben auf der Bühne einfallsarm, unentschieden und bestenfalss routiniert. Wieslaw Ochman sang die Partie des Fritz zwar respekabel, aber er zeigt ebensowenig wie irgendein anderes Ensemble-Mitglied überragende Stimmkunst. Anja Silja konnte nicht einmal als ramponierte Alte überzeugen, viel weniger noch als launische Kurtisane oder gar als jugendfrisches Gretchen.

Im Jahr 1830 brach in Brüssel nach einer Vorstellung von Aubers Oper Die Stumme von Portici eine Randale aus, die zur Revolution führte: So sehr hatte das Stück Mitleid mit den Ausgebeuteten erregt und Zorn auf eine ungeliebte Origkeit hochkochen lassen. Daß nun nach Schrekers Oper, die das ungestillte Liebesverlangen überhöht, in der belgischen Hauptstadt Liebe und Lust ausbrechen könnten, steht nicht zu befürchten. Die Sehnsucht nach fernem Klang aber wird die Pilger weiterhin ins Theatre de la Monnaie treiben. Auch wenn Besseres näherliegt.

Frieder Reininghaus