Triumph des südlichen Romantizismus

Tore von Gullit und van Basten machen Niederlande zum Europameister / UdSSR nur eine halbe Stunde gut  ■  Aus München Matti Lieske

Der nächste Bericht des Ministers Zimmermann zur inneren Sicherheit dürfte im wesentlichen einen Schwerpunkt haben: das Fußballpublikum. Das Abspielen der sowjetischen Nationalhymne vor dem EM-Finale brachte schonungslos an den Tag, in welch gewaltigem Ausmaß die Kreise der Fußballanhänger bereits von KGB und DKP unterwandert sind. Überall im Stadion wurden plötzlich rote Fahnen geschwenkt, Hammer und Sichel flatterten herausfordernd im freistaatlichen Wind, die Banner Gorbatschows wehten dreist um die Nasen von Kohl und Strauß, ein perfide geplanter Propagandacoup, dessen Erfolg nur durch ein antikommunistisches Pfeifkonzert von 30.000 beherzten Niederländern geschmälert wurde.

Das Münchner Olympiastadion als Hort der Subversion, wie bereits einige Tage vorher das Neckarstadion zu Stuttgart, wo gar ein Transparent mit den Köpfen von Marx und Engels die Fußballer aus dem Lande Lenins dazu animiert hatte, die Söldner italienischer Fußballmagnaten in Grund und Boden zu stampfen.

Marx und Engels fehlten in München, ebenso der knorrige Vorstopper Kusnetzov, der sich in Stuttgart seine zweite gelbe Karte erholzt hatte und deshalb die Traktierung der Beine Marco van Bastens anderen überlassen mußte. Dafür war Igor Belanow wieder mit von der Partie, jener schnellfüßige Stürmer, dessen in Mexiko so strahlend aufgegangener Stern jetzt vollends zur Schnuppe wurde. Dreimal kam der kleine Mann aus Kiew frei zum Schuß. „Drei hundertprozentige Chancen“, grollte Trainer Valerij Lobanowski hinterher und blickte dabei drein, als habe er gerade sein Gebiß verschluckt - wie immer also.

Doch es war nicht der Tag Igor Belanows. Einmal löffelte er den Ball übers Tor, das zweitemal traf er den Pfosten und als in der schicksalsschweren 60. Minute das Spiel auf der Kippe stand, zirkelte er einen Strafstoß in die Arme Torwart van Breukelens.

Es war der Tag van Bastens, des besten Spielers bei diesem Turnier. In der ersten halben Stunde schlappte er an der Mittellinie herum, als drückten ihn die Erwartungen der orangegefärbten und „Hup Holland„-rufenden Fans aus der Heimat zentnerschwer zu Boden, die Bälle versprangen ihm, die Zweikämpfe gingen verloren. Kaum hatte er jedoch in der 33. Minute Ruud Gullit den Ball zum 1:0 serviert, ging eine Verwandlung mit ihm vor, wie sie Dr. Jekyll nicht spektakulärer hingekriegt hätte.

Die Vertreter des gelbsüchtigen Kusnetzow wußten nie so recht, wo ihr Gegenspieler eigentlich gerade war, der Ball haftete an seinem Fuß, als sei er von einem zauberischen Bann dazu verdammt und selbst, als van Basten sich gegen Schluß darauf beschränkte, mit lässiger Eleganz über den Rasen zu flanieren und hier und da mal nonchalant gegen den Ball zu stupsen, strahlte er mehr Gefährlichkeit aus als Belanov selbst beim Elfmeter.

Van Basten war es diesmal vor allem, der jenen dem Oranje -Team nachgesagten „südlichen Romantizismus“ (vgl. taz vom Freitag, S.12) verkörperte und der einem nicht unbedingt berauschenden Match, in dem jeder meist das Naheliegende spielte, die Glanzlichter aufsetzte. Das größte in der 55. Minute, als er eine weite Flanke von Arnold Mühren aus der Luft nahm und aus spitzem Winkel wie einen Schmetterling mit Düsenantrieb am verdutzten Keeper Dassajev vorbeizischen ließ. Damit stand es 2:0, die EM schien entschieden.

Dabei hatten die Sowjets recht ordentlich begonnen. Wie gegen Italien betrieben sie ein emsiges Vorchecking, konnten damit die ballsicheren und nervenstarken, Niederländer allerdings kaum in Verwirrung stürzen. Diese waren, gewarnt durch ihre Vorrundenniederlage gegen die Sowjets, in erster Linie auf Sicherheit bedacht. Libero Ronald Koeman und Vorstopper Frank Rijkaard, der dem hochgelobten Oleg Protassov kaum eine Ballberührung erlaubte, waren ungewohnt häufig in der eigenen Hälfte zu finden, und auch Ruud Gullit hielt sich meist dort auf. Das war bitter nötig, denn der großartige Alexandr Sawarow inszenierte blitzgescheite und gefährliche Angriffe, denen nur der krönende Abschluß fehlte.

Der gelang dafür Gullit mit seinem wuchtigen Kopfball zum 1:0, und fortan hatten die Niederlande das Spiel im Griff. Die „emotionelle, dumme Handlung“ (Trainer Rinus Michels) von Torwart van Breukelen, der in der 60. Minute den Elfmeter verursachte, und Belanovs Fehlschuß zogen praktisch schon den Schlußstrich unter dieses Finale. Die Sowjets waren nunmehr nicht nur von Marx und Engels, sondern auch von allen anderen guten Geistern verlassen, zum Beispiel dem des Kampfes. „Einer muß verlieren und einer muß gewinnen. Schade, daß wir diesmal die Verlierer waren“, resümierte Fußball-Philosoph Lobanowski nach dem Spiel und sah dabei aus, als habe gerade der Blitz in seine Krawatte eingeschlagen.

Wie immer also.

UDSSR: Dassajew - Chidijatulin - Demjanenko, Litowtschenko, Aleinikow, Sararow, Michailitschenko, Gozmanow (68. Baltatscha), Raz - Protassov (71.Passulko), Belanow

NIEDERLANDE: van Breukelen - R.Koeman - van Aerle, Rijkaard, van Tiggelen - Vanenburg, Wouters, E.Koeman, Muhren Gullit, van Basten

TORE: 33. Min 0:1 Gullit, 55. 0:2 van Basten