Stadtlandschaften (3)

■ oder: Beobachtungen des Alltäglichen zwischen Ziegenmarkt und „Engel“ oder: „Downtown-Summer in the city“ oder: Die Kunst des scheinbar desinteressierten Voyeurismus oder: was jeder kennt

Mal wieder mehr Umsatz mit Export als mit Curry-Ketchup am Ziegenmarkt. Daß vor dem Imbiß noch kein Köter im Bier ersoff, ist ein Wunder. Kein Regen mehr, die Sonne setzt die Verbände und Abzesse an den bleichen Fixerarmen grell ins Licht. In den umliegenden Eingängen weggeknackte Wohnkultur, umringt von Plastiktüten aller Art. Gegenüber, aus dem „Haltepunkt“ krakeelt ein Wrack hervor. „Arschlöcher!“ und „Fickt euch selber!“ gröhlt er in den Laden zurück, schleicht sich seine und seine schwarze Frust- und Fuselwolke über die Straße, verschwindet in einen betagten Golf, startet mit quietschenden Reifen. Biergedunte Ex -Manpower im Übergang zum Rentenalter? Who knows?

Vorm „Chiamulera“ räkeln sich ein paar von den ganz Harten, die mit der Vergangenheit und dem tätowierten blauen Punkt unter dem Auge. Sie gehören zum Inventar der Straße, sie trifft man

vier Stunden später genau an derselben Stelle wieder, wenn nicht das Krafttraining ruft.

Die üblichen und unvermeidlichen „Hasse ma'ne Maak„ -Spielchen am Sielwall. Gibt nix wegen Mangel an Phantasie. Anders die Punkerfrau: „Wenn‘ de mir keine Maak gibst, küss‘ ich dich und dann biste 'nen Frosch“. Wer will schon ein kaltglibbriger Frosch sein? Wird mit wei Mark prämiert.

Vor dem Reformhaus neben dem Kino kämpft Zorn von der Ostertor-Spießeria seinen aussichtslosen Kampf gegen den Verfall dieser Stadt und setzt den Eingang unter Wasser. Zorn spült sich frei, die Karawane zieht einen Eingang weiter und wartet, bis alles trocken ist. Schlauer war da der Besitzer vom „Cinema“. Eine neu installierte Glastür mit Lichtschranke verhindert unerwünschte Ansammlungen im Eingangsbereich. Gelungene Technologiefolgenabschätzung.

Vorm „Engel“ haben sie die

Schaufensterpuppen ins Freie gesetzt. Die Kunst des scheinbar desinteressierten Voyeurismus, der gezielt nichtintendierten Blickkontakte und das Small-Talk: l'art profond de dire rien. Human vegetables.

Zu der im Ostertor Exotik verbreitenden Gattung der proletarischen Maulwürfe vom Tiefbau ist der Mann mit den Sixpacks zurückgekehrt. Schaufelpause. Kronenkorken werden mit dem Daumen weggeschnippt, zufriedenes kollektives Kippen der Köpfe in den Nacken. Aaah! Folgt ein Schwätzchen. Immer den Rohren und der Scheiße nach - ob die wissen, wo's lang geht?

Römerstraße. Kaffeepause bei einer Freundin. Dauerklingeln an der Tür: X vom Straßenstrich. Reißt sich schon im Vorraum die Jeans runter: „Scheiße! Periode ist da, brauch 'ne Unterhose!“ Ab ins Badezimmer, Waschen, neuen Slip. Tampon will sie nicht, stört beim Anschaffen, knüllt sich Klopapier in den

Zwickel. Dummerweise hängt Wäsche über der Wanne: „Ey, das ist ja 'nen echt geiles T-Shirt!“ Als sie geht, hat sie nebst des T-Shirts auch noch Socken abgestaubt.

Spät geworden, d.h. am Sielwall ist es Mittag nach der Zeitrechnung dort. In einem Einkaufswagen - Modell Aldi -Coupe - dröhnt der Ghetto-Blaster auf dem Bierproviant. Dahinter der übliche verknäulte Punk aus schwarzem Leder, löchrigen Strumpfhosen, bunten Haaren und schnüffelnden Kötern. Das Ratschratsch der Schächte am Spritzenautomaten wird rhythmisch.

Allgegenwärtig die nölenden, hohen, verlangsamten Stimmen der Teilnehmer am Schlafmittel-Ersatzprogramm, die toten Augen von Hoechst und Scherf. Dem Typ am Geländer reißt's beim Versuch, die Zigarette auszutreten, die Füße weg. Er rettet sich mit dem Barbiturat-Klammerreflex um die Hüften seines Ku

mepls.

Klirren von Flaschen, Streit und Lachen, Autostarts und großäugig faszinierte Provinz am Giros-Stand.

Hinter mir eine Stimme: „Weißt du, ob man, wenn man bei de Polizei, ob die einen da schlafen lassen, wenn welche hinter einem her sind?“ Wer ist hinter dir her? Will er nicht sagen.

Weiß ich auch nicht. Der Polizei ist ja alles zuzutrauen. Wirkliche Angst in den Augen, dauerndes Rundum-Sichern, trollt er sich. Armes Schwein.

Auf dem Heimweg fällt vor mir eine Oma einfach um. Weiß der Teufel, was die hiermacht. Ärmlich, nach Alter, Urin und auch Alkohol müffelnd. Aus der Platzwunde überm Auge fließt nur ganz wenig Blut, dunkel und träge. In der Kneipe wird telefoniert, Gäste bringen einen Stuhl heraus. „Will nicht mehr“, sagt sie. Dann kommt der Krankenwagen. Da kommt sie rein und alles hat seine Ordnung.

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