Gefrorene Musik

■ Vermischtes Hören in Büchern: "Silence"/"Uhrmacher,Bärnhäuter und musikalische Reisen"/"Der critische Musicus an der Spree"/"Die geheimen Waffen"

Konrad Heidkamp

Ferien in Griechenland, es gibt keine Musik. In den Anfangstagen noch vereinzelte Versuche, auf dem Sony -Transistorradio eine Verbindung herzustellen. Bruce Springsteen auf Kurzwelle. Wenn man das Radio losläßt, verschwindet er wieder im Rauschen. Drehen, hochheben, es klingt fremd, nicht nur wegen der Ferne. Auf UKW nur griechische und türkische Musik, zuhause vielleicht kann man das hören, aber hier wird Volksmusik zur Folklore. Schließlich gebe ich auf, musiklos, zwei Wochen lang.

Die weißen Buchseiten mit Sandkörnern dazwischen, der braune Bauch, das grüngestreifte Handtuch, die Sandwellen, das Meer, das Übliche: der Versuch, die Natur als Musik zu hören. Das Rauschen der Wellen überlagert sich, manchmal ein Kanon, manchmal als Echo, armselig und oft gelesen. „Ich erinnere mich/ Klang geliebt zu haben/ bevor ich je/ eine Musikstunde nahm/ Und so bestimmen wir unser/ Leben/ durch das, was wir lieben.“ Die Wellen bleiben Wellen, das Zirpen der Grillen bleibt Grillenzirpen. „Ich begann zu erkennen/ daß die Trennung von/ Verstand und Ohr/ die Klänge/ verdorben hatte/ - / daß man reinen Tisch/ machen mußte.“ John Cage zu lesen, ist Musikstille zu hören, während das Meer endlos plätschert. Man muß das Buch um 90 Grad drehen, vier Spalten abgesetzt, es gibt nichts zu sagen, wer einschlafen will, soll das tun, oder aufhören oder gehen, es geht um Nichts. „Aber Leben/ ohne/ Struktur/ ist nicht wahrzunehmen/ Pures Leben/ drückt sich/ - / in/ und durch Struktur aus.“ Das liebe Abendland: es kracht nur so von Strukturen, um die Rückkehr zum Klang der Natur am reinen Tisch zu servieren. Und dann doch die Heimkehr nach all den Irrfahrten: „Ich fange an/ die alten Klänge zu hören/ die ich für verbraucht/ gehalten hatte/ verbraucht/ durch Intellektualisierung/ ich fange an/ die alten Klänge/ zu hören/ als/ seien sie/ nicht verbraucht/ - / Offenbar sind sie's/ nicht/ Das Denken/ hatte sie verbraucht“. Das Radio schweigt noch immer und ich gehe ins Wasser, einfach um dem Meer ein bißchen Struktur zu gönnen.

Die Plastikflasche mit eineinhalb Litern Wasser vor sich, packt er neben mir sein Buch aus, holt den Walkman aus der Tasche und schiebt sich, während er schon liest, die Kopfhörer über die Ohren. Ich kann nicht hören, was er da liest, es scheint im Einklang zu sein. Ich kämpfe mit meiner Trägheit und romantischen Satiren von Brentano und Görres. Bogs, der Uhrmacher, will sein „menschliches“ Dasein aufgeben und endlich ordentlicher Bürger werden. Er ersucht um Aufnahme in die bürgerliche Schützengesellschaft, die zum Zeitvertreib die letzten Menschen, die sich in die Bäume geflüchtet haben, abschießt. Unzeitgemäß und sperrig zu lesen, der Umschlag wunderschön anzufassen, holzhaltig, gelblich, wie französische Paperbacks, nur, wenn ich eine Seite verstanden habe, ist mein Nebenmann schon beim nächsten Kapitel. Was soll ich mit den Heidelberger Romantikern in Griechenland? Die Aufnahmeprüfung: Bogs muß sich ein „verordinirtes Konzert“, eine „Haidnische Simphonie“ anhören und darüber eine Kritik schreiben. Kann er damit beweisen, daß er „nicht dabei zu sehr hingerissen worden, so mag die Inkorporation vorsichgehen.“ Eine schöne Idee. Die Unempfindlichkeit für Musik als Aufnahmebedingung für den Schützenverein. Bogs will partout Philister werden, und das gelingt ihm nur mühevoll, seine Phantasien brechen mit ihm durch, zwanzig Seiten lang. „Meinem Gemüthe hieng die Zunge aus dem Maule, wie einem durstigen Windhund ... Die Stimme ließ einen Fallschirm herab, die Leute stürzten darüber her, aber es sprangen eine Menge weißer Häschen heraus, die legten brillantene Ostereier unter allen Stühlen und Bänken, und flüchteten sich von unzähligen klatschenden Händen wie auf einer Klapperjagd verfolgt, alle in die Baßgeige hinein, der sie ein angenehmer Bissen mögen gewesen sein.“ Das klingt vertraut, die Bilder im Kopf, entlockt durch Musik und das Schönste - all das haust wirklich im Schädel des Uhrmachers. Bei der abschließenden Untersuchung des Prüflings klettert der Arzt, Dr.Sphex, an seinem Seil durch das Ohr in die Tiefe. Schwarz geflügelte Pferde, streitende Engel, bellende und hinkende Liederfragmente, eine verreckte Sirene und die Hasen mit ihren Eiern. Es muß entlarvend sein, über Musik zu schreiben, mehr kommt nicht raus als drin ist, im Kopf. Mein Freund wechselt die Kassette, ich gebe für heute auf, ich sehe keine Musik zu meinem Buch.

Die Postkartenbilder von Natur: weiße, flache Häuser, ein müdes Grün an den Bergen, die Grenze zwischen hellgrün und dunkelblau im Wasser, Konturen einer Insel im fahlen Licht. An Drähten hängen Lautsprecher in den Bäumen über dem Lokal. Sade statt Sirtaki. Es paßt nicht - ist zu wenig, vielmehr es schlägt sich. Griechische Musik ist immer auch Hundegebell, ein hell brummendes Moped, Teil des Essens, der Luft, mit stärker aufkommendem Wind immer schwächer werdend, Teil der Natur. Nochmals Romantik, oder Johannes Kepler oder Jakob Böhme, wie mir das vorher zu lesende Nachwort erzählt. Die Gottheit besitzt sieben Stufen. Die sechste ist die Sprachfähigkeit Gottes. Sein „Hall“, sein „Ton“ ist die Natur. Natur entstand als „kristallisierter Gesang der Götter“, ist „gefrorene Musik“. Schön und einleuchtend. Darum kein Prince in den Bergen, kein King auf dem Bauernhof. Eine Morphologie-, Architektur- und Stadttheorie der Musik wäre zu schreiben. Der Kampf zwischen „gefrorener Musik“ und den Harmonien im Walkman hat erst begonnen.

Nicht, daß sie zu schwimmen scheint, man sieht keine Bewegung, eher reinigt sie sich im Meer. Allein, nur der Kopf treibt im windstillen Wasser, und sie singt, singt ein griechisches Lied, es ist vollkommen unwirklich. „Die einzelnen Töne, woraus der Gesang gebildet ist, sind Äußerungen lebhafter Empfindungen, denn der Mensch, der Vergnügen, Schmerz oder Traurigkeit duch Töne äußert, läßt nicht Töne der Rede, sondern des Gesanges hören. Also sind die Elemente des Gesangs nicht so wol eine Erfindung der Menschen als der Natur selbst.“ Sie scheint zufrieden zu sein, also Affekt Nr.3: „Die Zufriedenheit, ein Vergnügen über das Gute, was wir ausgeübet zu haben vermeinen, ihren Ausdruck von der Freude entlehnet und damit eine vergnügt gesetzte, ruhige Melodie verlanget.“ 33 Affekte gibt es und also ebenso viele Vorschriften, diese musikalisch umzusetzen, bzw. nachzuahmen. Es beruhigt, dieses Buch zu lesen. Berliner Musikschrifttum von 1748-1799. Musik der Aufklärung, als Nachahmung der Natur des Menschen, als reinigende Katharsis. Für jede Leidenschaft eine Harmonie, eine Melodie, ein Rhythmus und ein paar gemischte - auch eine Bibel des New Age. Didaktische Anweisungen, die Musik der Natur nachzubilden, das gefrorene Wort Gottes rückzuübersetzen. Versuchsanordnungen: Welche Musik höre ich, in einem Tal stehend, Bescheidenheit und Demuth (Affekt Nr.20) empfindend? Bestimme den Charakter deiner Freunde aufgrund ihrer Schallplatten! Welche Platte lege ich auf, die Zeit, das Licht, meinen Affekt berücksichtigend? „Wer das, was sich nur von innen heraus fühlen läßt, mit der Wünschelrute des untersuchenden Verstandes entdecken will, der wird ewig nur Gedanken über das Gefühl und nicht das Gefühl selbst entdecken.“ Joseph Berglinger, auch Tieck, Wackenroder, am Ende der Aufsatzsammlung klingt's wieder romantisch nach Musik. „Aber was streb ich Thörichter, die Worte zu Tönen zu verschmelzen? Es ist immer nicht, wie ich's fühle. Kommt ihr Töne, ziehet daher und errettet mich aus diesem schmerzlichen irdischen Streben nach Worten!“ Oder umgekehrt gleichsinnig der Romantiker John Cage: „Aber/ nun/ - / gibt es Stille/ und die/ Wörter erzeugen sie/ helfen mit/ diese Stille zu erzeugen/ ich habe nichts zu sagen/ und ich sage es/ und das ist/ Poesie/ - / wie ich sie brauche.“ Es ist zu heiß zum Denken. Seit Tagen pfeife ich „Every breathe you take“, das letzte Lied, das vor meiner Abreise lief. Als ich den Gesang der Frau nicht mehr höre, pfeift es sich wieder von selbst.

„Und genau in dem Augenblick, als Johnny wie freudeverloren spielte, brach er plötzlich ab, gab, ich weiß nicht wem, einen Rippenstoß und sagte: „Das habe ich morgen schon gespielt.“ Und die Jungs unterbrachen ihr Spiel, nur zwei oder drei spielten noch einige Takte, wie ein Zug, der langsam bremst ...“

Julio Cortazar erzählt die Geschichte eines Jazzkritikers, der die Geschichte Johnnys alias Charlie Parker erzählt. Es ist nur dieser eine Satz „Das habe ich morgen schon gespielt.“ Wer die Musik Parkers nicht kennt, wird sie in der Geschichte nicht hören. Kein Wort, um Musik hörbar zu machen, keine Assoziationen, um Musik nachzustellen, keine Strukturen, um Stille zu erzeugen, nur diese fünf Wörter, um Musik fühlbar werden zu lassen und man weiß, warum Musik sein muß. Nicht die Sehnsucht, irgendwann irgendwo anzukommen, sondern die Bewegung, die die Zeit aufhebt Normalzeit, Ortszeit, Flugzeit, Musikzeit. Der Verdacht, daß Gott einmal gestottert hat, und in disem Zeitloch Musik entstand, verhärtet sich.

Das Flugzeug steht noch, als sich das Mädchen vor mir die Kopfhörer überstreift, in letzter Minute, wie ein rettendes Sauerstoffgerät. „Aber in Wirklichkeit/ nicht wie die Schnecke/ tragen wir unser Haus/ in uns/ was uns befähigt/ zu fliegen/ oder zu bleiben/ - / uns an beidem/ zu freuen/ Doch Vorsicht vor dem/ was/ atemberaubend/ schön ist/ denn jeden Augenblick/ - / kann das Telefon/ klingeln/ oder das Flugzeug/ niedergehn auf/ unbebautem Gelände.“ Weiß Gott, was sie hört. Vielleicht John Cage?

John Cage: „Silence“, Frankfurt 1987, 12 DM.

Clemens Brentano/Joseph Görres: „Uhrmacher, Bärnhäuter und musikalische Reisen“, Edition Sirene Berlin 1988, 32 DM.

Hans-Günter Ottenberg: „Der critische Musicus an der Spree“, Reclam Leipzig 1984, 3 Mark.

Julio Cortazar: „Die geheimen Waffen“, Suhrkamp 1988, 10 DM.