Die neue Disziplin

Beobachtungen auf einem Sonntagsspaziergang  ■  PRESS-SCHLAG

Meine sonntäglichen Spaziergänge führen mich am Sportplatz vorbei, und immer um dieselbe Zeit fangen zwei Fußballmannschaften an zu gewinnen oder zu verlieren. Manchmal sind sie auch um einen Ausgleich bemüht. Doch dieses Mal verlor ich fast das Gleichgewicht. Statt meiner Fußballer tummelte sich eine kleinere Anzahl muskulöser Athleten auf dem Kunstrasen, die mit Handtüchern warfen. Jetzt sah ich auch das provisorisch am Eingang angebrachte Schild: „Erste Deutsche Meisterschaft im Handtuchweitwerfen“.

Mehrere Schaulustige hatten sich auf dem Platz verteilt und ich teilte mich ebenfalls, in Unglauben und Mißtrauen, aber es war keine Schaukel in Sicht, die mich ver- hätte können. Ein Platzwart wies mich in die Geheimnisse der neuen Disziplin ein: „Hundertzwanzig Gramm wiegen diese Frotteelappen, und sie müssen in ihrer Grundkonsistenz erhalten bleiben, dürfen also weder genäßt noch verknotet werden.“

Ein Teilnehmer betrat den Ring. Er griff in den Handtuchkorb, zerknüllte, wohl nach einem ausgeklügelten System, das Handtuch, konzentrierte sich kurz und drückte dann mit einem gewaltigen Stoß das Tuch in die Luft. Fünf Meter flog das Handtuch wie ein Ball, dann fiel es auseinander und flatterte bei der Neunmetermarke leicht auf den Boden. „Sehen sie“, erklärte der Platzwart, „eine schwere Kugel zu stoßen ist leichter als ein leichtes Handtuch zu werfen, weil sie schwerer ist.“

Die Techniken unterschieden sich. Einige zerknüllten das Handtuch nach komplizierten Mustern, andere packten es an den Zipfeln und schleuderten es, zwei versuchten es mit der Hammerwurftechnik. Im ersten Durchgang konnte noch keiner überzeugen, doch dann schaffte die Nummer 5, ein blonder Hüne, 14,30 Meter und wurde frenetisch bejubelt. „Der Lokalmatador“, erläuterte mein Informant, „jahrelang hat der das Handtuch werfen müssen. Sportlich, beruflich und privat. Jetzt hat er eine Tugend daraus gemacht.“

In der dritten Runde passierte es dann. Der Lokalmatador, vom Ehrgeiz besessen, seinen zweiten Wurf noch zu übertreffen, schnappte sich das Handtuch, ging in den Ring und wischte sich in der Konzentrationsphase den Schweiß von der Stirn. Mit dem Handtuch. Aus und vorbei. Trotz Zuschauerprotesten zeigten ihm die Kampfrichter den roten Waschlappen. „Schade“, sagte der Platzwart, „er hätte gute Aussichten gehabt, in Seoul eine Medaille zu gewinnen.“

Jetzt schaltete sich der Mann zu meiner Linken ins Gespräch. „Noch ist gar nicht gesichert, ob das IOC das Handtuchwerfen als olympische Disziplin anerkennt. Du weißt doch, wie konservativ diese alten Knochen sind.“

„Dabei wird der friedliche olympische Gedanke in keiner anderen Disziplin so hochgehalten wie hier. Würden alle das Handtuch werfen, gäbe es keine Kriege mehr.“

Vielleicht ist das gerade das Problem. Welche Nation möchte in Seoul schon als erste das Handtuch werfen!“

„Nehmen keine Frauen am Wettbewerb teil?“ erkundigte ich mich. „Leider noch nicht“, versicherte der Platzwart. „Frauen werfen nicht so leicht das Handtuch.“

Aber ich. Ich drückte den beiden das Handtuch, daß es mit Seoul noch klappen würde und ging heim.

Thomas Böhm