„Ach, wie hungert mein Gemüte“

■ Regelmäßig wiederholte Sinnestäuschung mit einem Schluck Wein

„Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist...“ - mit diesem Satz leitet der Pfarrer die Abendmahls-Zeremonie ein. „Schmecket und sehet“, das tut gut, das verspricht sinnlich nachvollziehbar zu machen, das hilft dem Glauben-Wollen nach. „Daß in diesem Brot und Weine, Christus sich mit mir vereine“, heißt ein kirchliches Abendmahlslied.

In der Kirche am St. Josef-Stift kam die Aufforderung am Sonntag vormittag dem Pfarrer Klebe so selbstverständlich über die Lippen, wie man eben Formeln zum hundersten Male sagt. Dem Glauben an eine große Botschaft sollte sie nachhelfen: daß Gott „aus einem hoffnungslosen Fall, aus einer mißlungenen Kreatur etwas machen kann“, hatte der Prediger verkündet.

Bibeltext war die Heilung eines Blinden. Vor den Gottesbesucherinnen nahe am Krankenhaus hatte er die menschlichen Selbstzweifel, die nicht nur Blinde erfahren, in den Raum gestellt. Nutzlosigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Angewiesen-Sein aus andere, sich nicht selber zu mögen, sich nicht wertvoll zu finden - „das sind nicht nur die anderen“, die Blinden. Wer, in einer solchen Lage, dürstet nicht nach Zuwendung, nach anerkennenden Worten, nach einem Moment, der das Gefühl vermitteln könnte, doch wichtig, zu etwas Nütze zu sein?

Aber die anderen sind unerbittlich: Heimlich, so spricht der Pfarrer verbotene Gedanken an, fragt der eine oder andere oft: „Wozu leben diese Menschen eigentlich?“ In der ganzen Tiefe menschlicher Selbstzweifel predigt er die Stimme Jesu: „Nein, es wäre nicht besser, wenn...“ Blindheit ist für Jesus nicht Strafe, sondern nur ein Anlaß, um sein Tun erfahrbar zu machen: „Er ging hin und wusch sich und kam sehend zurück.“ Auf disem Punkt reitet der Pfarrer - so nahe am Krankenhaus - aber nicht herum, er benutzt die Geschichte eher metaphorisch. „Wir sind ihm nicht gleichgültig“, Gottes Passion am Kreuz für alles Wertlose zeige es.

Das Paradox bleibt in immer neuen Formulierungen im Raum stehen, ein Lied nimmt das Motiv wieder auf: „Ach, wie hungert mein Gemüte, Menschenfreund, nach deiner Güte, ach, wie pfleg‘ ich oft mit Tränen, mich nach deinem Mahl zu sehnen...“ Und wie eine Antwort auf diese Bitte kommt dann des Pfarrers Aufforderung, nach vorn zu treten: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist...“

Ein verdächtiger Satz: Bedarf es eines Hilfsbeweises mittels der klitzekleinen Selbsttäuschung? Die regelmäßig wiederholte Sinnestäuschung mit dem Schluck Wein, dessen Herkunft und Preis im Laden nebenan niemand recht wissen will, scheint, rein zahlenmäßig, an Anziehungskraft verloren zu haben.

Klaus Wolschner