It's really not me

■ Der New Yorker Komponist Steve Reich über den Unterschied zwischen europäischer und amerikanischer Musik, über das 19. Jahrhundert, Phil Glass, Kurt Weill und andere Kollegen

Frieder Reininghaus

Wenn sie sich öffentlich äußern, die amerikanischen Minimalisten der Musik, dann wiederholen sie sich ebenso, wie sie die Patterns ihrer Kompositionen repetieren

-allmähliche Veränderungen der Grundmuster des minimalen Gedankenvorrats von Philip Glass und Steve Reich machen vor allem den Reiz ihres Geschäftes aus. Daß nicht genau zugehört wird, ist ihrerseits einkalkuliert (und die vorgängige Erfahrung für diese Berechnungsgrundlage dürfte genuin nordamerikanischen Ursprungs sein). Alle Werbung basiert auf den Prinzipien der Wiederholung und der erkennbaren Konstanten im Variablen.

Phil und Steve - wahrscheinlich gehören die zwei zu den letzten Helden dieser Erde. Sie gingen nicht nur meilenweit, um ihre Marke zu finden, sondern sogar bis ans andere Ende der Welt: der eine von feinen Ostküsten-Colleges und dem Kompositionsunterricht bei Nadia Boulanger in Paris zur Rhythmik und Spielweise der indischen Musik; der andere von nicht weniger exklusiven US-amerikanischen Bildungsstätten und Kursen bei Luciano Berio nach Afrika und zur balinesischen Gamelan-Musik. Und wieder zurück. Der eine ist mit Robert Wilson und Francis Ford Coppola auf Erfolgskurs zwischen Hollywood und den zahlungskräftigsten europäischen Theatern, der andere auf dem etwas gehobeneren Trip durch die Nachtstudios.

Warum sich seine Managerin mich als Opfer auserkor, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls erreichte sie, kurz nach Mitternacht, daß ich ihre dringende Einladung zum Frühstück mit Steve Reich akzeptierte, eine Nagra unter den Arm klemmte und ins Kölner Senatshotel eilte. Dort wurde ich erst einmal examiniert: Welches seiner Stücke ich wann und wo gehört habe, fragte der offensichtlich von Terminnöten geplagte Komponist, während er sich wenigstens ein Dutzend verschiedene Pillen auf dem Teller zurechtlegte und mit dem Hinunterspülen begann. Für die Mit- und Nachwelt hob er in Newyorkerslang an zu diktieren:

Steve Reich: Ich wurde 1936 in Amerika geboren. Im Alter von sechs Jahren begann ich Klavier zu spielen und hörte das, was damals von der Mittelklasse an beliebten Stücken gehört wurde: die Meistersinger und Beethovens Fünfte, Schuberts Unvollendete, Broadway-Musik, Gershwin etc. Von Bach, von der ganzen Barock- und Renaissance-Musik gab es buchstäblich keinen Ton zu hören, genausowenig Strawinsky, Bartok oder echten schwarzen Jazz. Als ich vierzehn war, hörte ich zum ersten Mal Sacre du printemps, die Brandenburgischen Konzerte und Charlie Parker. Diese Musik beeindruckte und prägte mich enorm. Ich hängte das Klavierspielen an den Nagel, übte nur noch Schlagzeug und wollte Drummer werden - Jazz spielen.

Auf dem College studierte ich dann Philosophie, vor allem Wittgenstein; aber auch Musik. Dann ging ich auf die Juilliard School of Music, das Konservatorium in New York City; es folgte ein Aufbaustudium am Mills College in Kalifornien bei Darius Milhaud und Berio, der damals in den Vereinigten Staaten war. Das war Anfang der sechziger Jahre. Ghana und Berio

Ich schrieb und produzierte verschiedene Sachen, gründete 1966 ein eigenes Ensemble: „Steve Reich and Musicians“, das in New York häufiger auftrat - u.a. bei einem Benefiz -Konzert für das Wiederaufnahme-Verfahren der „Harlem Six“. 1970 fuhr ich nach Ghana und informierte mich dort über afrikanische Musik. Nach der ganzen Studiererei fühlte ich, daß ich kein Europäer bin, daß ich nicht - wie Berio, Boulez oder Stockhausen, die nach dem Krieg im zerstörten Europa aufwuchsen - in der abendländischen Musiktradtion stehe.

Ich war ja in einem Land ohne unmittelbare Kriegsfolgen geboren und erzogen worden, in dem der Rock 'n‘ Roll und all diese Musikformen in der Luft lagen. Ich merkte, daß mein Unterricht bei Berio z.B. nützlich, aber letztlich unproduktiv gewesen war. Ich liebte den Jazz, aber ich war auch kein richtiger Jazzer. Deshalb wollte ich zu den Wurzeln dieser Art von Musik vordringen. Wo in der Welt war noch eine Musik zu finden, in der das Schlagzeug das Dominierende ist? Daher die Reise nach Accra, wo ich an der Universität und bei einem Stamm das Trommeln lernte. 1973/74 arbeitete ich dann in Kalifornien mit balinesischen Musikern. Fazit: Ich lernte, wie man Musik auf andere Art organisieren kann, wie man in Kategorien der afrikanischen oder der Gamelan-Musik denken kann.

Dennoch wollte ich zu keinem Zeitpunkt deren Sound imitieren, sondern einen eigenen Ton bewahren, der vom Klavier (und dessen Tonleitern) herkommt, nicht von exotischen Tonarten. Die Struktur der afrikanischen und indonesischen Musik allerdings erwies sich als adaptierbar.

Frieder Reininghaus: In Stücken wie Ihrer Desert Music finden sich Kanons und das, was man seit Haydn als „durchbrochene Arbeit“ bezeichnet. Sind das nicht sehr europäische Strukturen?

Das ist nicht wie bei Haydn! Das hat mit dieser ganzen Tradition, die von der Klassik bis zu Schönberg führt, nichts zu tun! Es ist ganz und gar keine homophone, sondern durchweg kontrapunktische Musik. Alle musikalischen Linien beruhen auf Imitation. Die Themen sind sehr kurz. Dies ist nicht mehr wie frühere europäische Musik. Dahlhaus und Gould

Die entschieden modernen Musiker in Nordamerika neigen fast alle dazu'die Errungenschaften der Musik des 19. Jahrhunderts aus ihrem Denken auszublenden. Glenn Gould hat das exemplarisch formuliert.

Für meine Musik gilt, daß sie vom Jazz, vielleicht ein wenig von Debussy und Strawinsky, von frühen europäischen Quellen (wie Josquin Desprez) und außereuropäischen herkommt, wenn man nach der Technik sucht. Ich mag zwar einige Stücke von Beethoven - but it's really not me. Mit Werken der Romantik oder Spätromantik habe ich absolut nichts zu tun - weder mit Wagner noch mit Bruckner oder Mahler. Nicht einmal mit Schönberg. Ich behaupte nicht, daß das schlechte Musik sei. Nur habe ich persönlich keinen Zugang dazu.

Carl Dahlhaus, ein prominenter Musikforscher, konstatiert einen „Bruch“ in der Musikgeschichte (Europas) um das Jahr 1970, zu dem u.a. das Auftauchen der „Minimal Music“ beigetragen hat: „Frühere Neue Musik war fast immer, so weit sie sich auch vorwagte und von der Tradition entfernte, vom geschichtlichen Bewußtsein getragen - dem Bewußtsein, Teil einer tragenden Kontinuität zu sein, die sogar durch einen Traditionsbruch, wie ihn Schönbergs Klavierstücke opus 11 und Strawinskys Sacre du printemps markierten, nicht aufgehoben wurde; noch der Riß, der die Epochen voneinander trennte, wurde als Konsequenz aufgefaßt, die eine spätere Zeit aus ungelösten Problemen zog, die ihr von der früheren hinterlassen worden waren.“

Wissen Sie, niemand kann ganz aus der Geschichte springen. Und natürlich habe auch ich etwas von ihr abbekommen. Tatsächlich wurde bis etwa 1970 die Musik, die einzig als wichtig galt, in London, Paris, Berlin usw. gemacht, die nicht-abendländische als unbedeutend angesehen. Diese Haltung hat sich geändert. Auf uns Amerikaner übte die Musik der Schwarzen einen erheblichen Einfluß aus - er ist bei Gershwin so evident und selbst bei Ives. Ich denke, die Mischungen aus Western Music und der nicht-europäischen Musik sind für Amerika normal. Amerikanische Musik, die sich wie eine schlechte Imitation von Stockhausen oder Boulez anhört, ist schlicht langweilig.

Die Europäer sind für gewöhnlich an Jazz interessiert, an Gershwin, Ives, Cage, selbst an mir: eben an Musik, die nicht europäisch klingt. Andererseits bin ich auch weder Afrikaner noch Indonesier oder Chinese, sondern ein Jude, der in New York City geboren wurde.

Also: was Ihr Herr Dahlhaus sagt, ist nur die halbe Wahrheit. Denn die Tradition, die Sie haben, ist eine andere als unsere. Unsere ist eine Mischung aus europäischer und nicht-europäischer Kultur. Das gilt in politischer wie in künstlerischer Hinsicht. Das ist eine Tatsache - und auch ein Problem. Ich denke, seit 1970 hat sich einiges verändert. Die Musik von Glass, Terry Riley und mir hatte einigen Einfluß in Europa, aber ihr Hauptteil wird von Amerikanern gemacht, so wie die meiste serielle Musik von Europäern produziert wurde.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Philip Glass entwickelt? Was halten Sie beispielsweise von dem Film Koyaanisqatsi und dessen Musik?

Um 1967/68 hatte ich wohl auf Phil Glass den gleichen Einfluß wie zuvor Terry Riley auf micht. 1968 machte er das Stück 1+1, das er mir widmete. Später wurde diese Widmung gestrichen Also eigentlich will ich zu Glass nichts sagen. Koyaanisqatsi sah ich im Fernsehen - das war... (Steve Reich murmelt unverständliche Worte und deutet tiefe Abscheu an). Überland-Züge

Wer etwas werden, sein und bleiben möchte im Musikbetrieb, der schreibt (wieder) für die Musiktheater. Ich höre, daß 1991 in Stuttgart eine „Oper“ von Steve Reich uraufgeführt werden soll...

Zunächst einmal: Ich habe gerade hier im Westdeutschen Rundfunk die Bänder für ein Stück mit Stimmen, Streichern und Tonband fertiggestellt, das im November in Köln uraufgeführt werden soll: Different Trains. Ich habe schon in den sechziger Jahren Kompositionen mit Tonband erarbeitet, aber sie waren nur mit Stimme und nur mit Band. Bei Different Trains jedoch wird die Sprach-Melodie in das musikalische Gefüge integriert - nicht als Collage a la John Cage, sondern substantiell. Alle Melodien in diesem Stück nehme ich aus der Alltagssprache. Zu hören ist z.B. eine weibliche Stimme, die über die amerikanischen Züge der vierziger Jahre spricht - die Überland-Züge, die in meiner Kindheit eine große Rolle spielten. Als ich ein Jahr alt war, trennten sich meine Eltern; meine Mutter zog nach Los Angeles, mein Vater blieb in New York; ich fuhr in den Jahren 1939, '40, '41 und '42 mit einem Kindermädchen die gewaltige Strecke häufiger hin und her. Während diese Reisen damals aufregend und romantisch waren, denke ich rückblickend, daß ich mit ganz anderen Zügen hätte fahren müssen, wenn ich damals in Europa gelebt hätte. Stimmen, die sich daran erinnern, erscheinen auch in Different Trains. Ich versuchte, kurze Sprachausschnitte mit mehr oder weniger klarer Tonhöhe auszuwählen und möglichst genau zu notieren. Zum Beispiel (singt):

HIER NOTE EINFÜGEN

Die Streicher imitieren diese Sprach-Melodien wiederum möglichst genau. Beides - die aufgezeichnete Sprache und ihre instrumentale Imitation - werden mit Eisenbahn -Geräuschen und vier Streichquartetten - auf Band und live kombiniert. Das Band wurde unter Verwendung von Sampling Keyboards und einem Computer hergestellt.

Die Behandlung der Sprach-Melodie erinnert mich an die Kompositionstechnik von Leos Janacek.

Es geht in diese Richtung. Aber wenn man die Möglichkeit hat, etwas auf Band aufzuzeichnen, ist das wie eine Fotografie. In der Genauigkeit der Aufzeichnung und den Möglichkeiten der präzisen instrumentalen Imitation geht meine Arbeitsweise weit über Janacek hinaus. Ich möchte nun

-nach der analogen Methode - auch noch einen Video-Recorder einbeziehen, mit dem sich das Aussehen und die Bewegungen von Menschen festhalten und dann von der (instrumentalen) Musik doubeln lassen. Ich will in die Lage versetzt sein, die Wirklichkeit zu orchestrieren und zu „harmonisieren“ die dokumentarische Wirklichkeit.

Ich stelle mir z.B. für eine theatralische Realisierung der Different Trains eine Bühne mit fünf riesigen Bildschirmen vor; darunter agieren die Musiker - überhaupt agieren nur die Musiker. So etwas will ich versuchen - eine Art „dokumentarisches Musik-Video-Theater“. Movie-Komponisten, Korngold

Sie streben also über die Neue Kammermusik, deren eher bescheidene Orte sie bislang bedienten, zur großen Wirkung der Musikbühnen. Das liegt ganz im Zug der Zeit - und auch vom Erfolgsrezept Ihres früheren Freundes Philip Glass ist ja zu lernen. Das trägt auch einer recht traditionellen europäischen Erfahrung Rechnung: daß im 20. Jahrhundert die nachhaltig wirksamen und einträglich arbeitenden E-Musiker zumindest auch für das Musiktheater komponierten - Richard Strauss und Franz Schreker, Alban Berg und Schostakowitsch, Stockhausen und Penderecki, Strawinsky und Korngold ...

Wer?

Erich Wolfgang Korngold.

Halten Sie den für einen wichtigen Komponisten?

Warum nicht? Auch Nino Rota hat vorzügliche Musik geschrieben. Und nicht einmal nur für Filme von Fellini, Visconti und Zeffirelli.

Ach so, Sie reden von Movie-Komponisten!

Nein, von Komponisten.

Diese Leute, von denen Sie da reden, existieren für mich nicht. Und Sie wollen über diese Dummköpfe reden? Das ist Dummheit, wachen Sie auf! Sie reden von diesem - wie hieß er doch gleich?

Korngold.

Das ist Müll!

Das haben die Nazis auch gesagt. Ich denke, daß es ein Dilemma der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist, daß die am Material innovativen Komponisten die auf eine andere Weise produktiven verächtlich machen und ausgrenzen - und umgekehrt.

Ich glaube, die Movie-Composers haben genug Geld.

In Deutschland haben eine ganze Anzahl Komponisten ausreichend Geld; es wird gut für sie gesorgt durch die GEMA, durch Stipendien, Subventionen und Hochschullehrerstellen. Anderswo gibt es ungleich größere materielle Probleme.

Ah, nun weiß ich'was Sie meinen: daß es viele Musiker mit akademischen Titeln gibt, die keine Musik machen, die man anhören kann - und es gibt gute Musiker in Filmstudios und beim Rundfunk, die viel bessere Musik machen. Da bin ich völlig mit Ihnen einig. Von Kurt Weill lernen

Die Oper, das Musiktheater ist die Hoffnung für Komponisten, die etwas vom Einfluß zurückgewinnen wollen, welchen die besten ihrer Kollegen in früheren Jahrhunderten wohl hatten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ein neues Stück für das Musiktheater ungleich mehr Presse, Aufmerksamkeit und Interesse erzielt. In der New York Times ist der Theaterteil drei- bis viermal so umfangreich wie die Musikkritik. Ich denke, die Leute mögen eine gute Show. Das ist Bestandteil der menschlichen Natur. Theater und Film sind die dominanten Kunstformen...

Der Musikkonsum der Menschheit ist mittlerweile gigantisch!

Also ich hasse Opern! Und John Cage, den ich in seiner Art verehre, mag auch keine Opern. Er hat sich einen Spaß erlaubt, einen hintergründigen: „Europeras“. Ich möchte es nicht wie John Cage machen: ich möchte die Leute nicht ändern, die Opern lieben; aber möglicherweise kann ich ihnen eine Alternative anbieten.

Für mich war und ist das interessanteste Stück des Musiktheaters im 20. Jahrhundert die „Dreigroschenoper“. Kurt Weill veränderte das Orchester mit einem Streich, kürzte den großen Streicheranteil weg. Er wollte lieber ein Kabarett-Orchester, als er sich im Berlin der zwanziger Jahre und auf der Höhe der Zeit befand. Ich möchte etwas Analoges tun - heute. Ich will von der Methode Kurt Weills lernen, ohne ihn zu kopieren - denn wir haben jetzt keine Zwanziger Jahre mehr und auch keine Weimarer Republik. Und wenn ich Glück habe, gelingt es mir. Ich hoffe, daß die Leute meine Musik mögen... Ich werde nach wie vor mein Bestes versuchen.

P.S.: Daran hatte ich keinen Zweifel. Aber es war keine Zeit mehr, darüber zu sprechen, daß Kurt Weill ja nicht nur von der Musik etwas verstand (und gerade auch von ihrer Tradition), sondern auch von den gesellschaftlichen Zuspitzungen seiner Epoche viel wahrgenommen, begriffen und auf sie reagiert hat. Überhaupt hatte ich erst einen kleinen Teil meiner Fragen an den Mann gebracht, war die kurz bemessene Gesprächszeit zu einem erheblichen Teil mit der Wiederholung der PR-Formeln verstrichen, die der Komponist jetzt allerorten auf seiner Tournee losschlägt. Als ob die Leute dadurch anfingen, eine bestimmte Musik mehr zu schätzen, gar zu lieben. Nichts aber erscheint so problematisch und verhaltensgestört im Umkreis der Musik wie die Gespräche zwischen den Komponisten und den Kritikern.