Kammgarn hinter roten Ornamenten

■ Auf den Spuren des Delmenhorster Wolle-Imperiums / Argentinische Schafe und flinke „Wollmäuse“ aus dem Osten / Lahusens finanzierten die Nazis - bis zum Konkurs / Fotobuch dokumentiert verfallende Architektur

Wolle aus Argentinien und Neuseeland, ArbeiterInnen aus Böhmen, Polen und der Türkei. All das hat die „Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei“ (NWK) verschlungen in den fast 100 Jahren ihrer Existenz. Ihre Produkte waren Wollgarne, Fett, Seifen und Parfums. Heute rieselt der Kalk, wuchert der Schwamm hinter den stilvollen Backsteinfassaden. Ein Teil der Fabrikgebäude ist schon abgerissen. Neubauwohnungen entstehen in dem industriehistorischen Ambiente. Im früheren Turbinenhaus wird ein Museum vorbereitet. Der Fotograf Renke Reinders hat die verfallende Fabrik vor den ersten Abrissen fotografiert. Seine Fotos, mit einer Werksgeschichte von Gerda Hartmann, sind jetzt erschienen.

Gründer der NWK war der Bremer Kaufmann Martin Christian Leberecht Lahusen. Den Grundstock hatte aber schon dessen Vater gelegt, indem er in seiner Bremer Kneipe betrunkenen Matrosen für Grog und Schnaps „Länderlose“ abhandelte. Für Kriegsdienste bei den jungen südamerikanischen Republiken wa

ren deutsche Matrosen mit Landbesitz in den unwegsamen Pampas und Urwäldern des Kontinents entlohnt worden. Vater Lahusen stapelte die Besitztitel, und sein Sohn Leberecht ließ Schafe auf den riesigen Flächen weiden. Als Rohwollehändler stieg er ins Textilgeschäft ein. Es florierte so gut, daß er 1882 die NWK gründen konnte.

Die Arbeitskräfte holte Lahusen aus Böhmen, Polen und der Ukraine. Besonders junge Mädchen, „Wollmäuse“ genannt, wurden dort angeworben. Lahusen ließ Unterkünfte bei seiner Fabrik errichten: Ein Mädchenwohnheim, ein Junggesellenheim, später „Beamtenhäuser“ für die Vorgesetzten und Wohnhäuser für Arbeiter. Weitere Sozialeinrichtungen: eine Badeanstalt, ein Wöchnerinnenasyl, ein Kindergarten. All das war für die ArbeiterInnen nicht kostenlos und band sie zusätzlich an ihren Brotherrn. Die Arbeitsbedingungen waren schlechter, die Löhne niedriger als anderswo.

Nach der Jahrhundertwende expandierte die NWK schwindelerregend. In den 20er Jahren kontrollierte die Gesellschaft 25 Prozent der Rohwolleverarbei- tung der ganzen Welt. Doch 1931 endete der Höhenflug im Konkurs. Um immer neue Bankkredite zu bekommen, hatten die Lahusens das Wachstum der letzten Jahre nur noch vorgetäuscht. Die Enkel des Firmengründers, durch großzügige Spenden den aufkommenden Nazis eng verbunden, wurden wegen Wirtschaftsvergehens zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Gläubigerbanken teilten das gestrandete Unternehmen unter sich. Mit halber Kraft ging die Produktion in Delmenhorst weiter. Das Bremer Verwaltungsgebäude fiel 1933 ans Reich. Den Namen „Haus des Reichs“ trägt das heutige Finanzamt immer noch. Der Herrensitz Hohehorst, der mit 107 Zimmern die Privatwohnung der Lahusens werden sollte, war noch im Bau, als die Firma Pleite ging.

Zur Nazizeit wurden bei der NWK nicht nur Wollfäden sondern auch Granaten gedreht. Wieder kamen Arbeitskräfte aus Polen, diesmal zwagsweise. Auf dem Werksgelände wurden sie hinter Stacheldraht gehalten.

Nach dem Krieg . ging es mit steigenden Produktionszahlen hinein ins Wirtschaftswunder. Wieder gingen die Werber auf die Suche nach billigen Arbeitern, diesmal in die Türkei. Die Personalchefs selbts ließen sich beim deutschen Arbeitsamt in Istanbul die Fingerfertigkeit der TürkInnen vorführen und importierten nur die beste Ware. Für einen großen Teil der türkischen Bevölkeung unserer Region war die Kammgarnspinnerei der erste Arbeitgeber.

In den 70er Jahren verebbte die Texitilkonjunktur. Die Gesellschaft ging 1980 ein zweites Mal in Konkurs und wurde von dem Textilfabrikanten Rehers aus dem Emsland übernommen. Der entließ die Hälfte der gut 800 ArbeiterInnen. Wer bei ihm bleiben wollte, mußte ihm seine Abfindung überlassen. Darüberhinaus kassierte Rehers großzügige öffentliche Hilfe, machte den Betrieb aber dennoch zwei Jahre später wieder dicht.

mw

Zum Weiterlesen: Die Nordwolle - ein Industriedenkmal. Fotodokumentation von Renke Reinders (Fotos) und Gerda Hartmann (Text), Riek-Verlag, Delmenhorst