Unbeherrschter Verfolgungsdrang

Geiseldrama: Liste der Polizeifehler wird immer länger / Polizei hat sich selbst die Strategie kaputt gemacht / „Zwischenbericht“ von Schnoor gewagt interpretiert  ■  Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Der Verlauf des Gladbecker Geiseldramas ist von polizeilichen Fehlern weit mehr geprägt worden, als das bisher von dem nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Schnoor eingeräumt wurde. Schnoors Behauptung während der Vorstellung des offiziellen „Zwischenberichtes“, bei der Polizei habe es zwar „handwerkliche Mängel“ gegeben, aber „keiner dieser Mängel hat den Einsatzverlauf entscheidend beeinflußt“, ist angesichts der auch durch den „Zwischenbericht“ präsentierten Fakten mehr als gewagt. Schon am Anfang des Banküberfalls hat das offene Auftreten der Polizei, wie es im Bericht heißt, „die Täter wahrscheinlich daran gehindert“ ihren ursprünlichen Plan zu verwirklichen und „unerkannt mit dem Tresorinhalt zu flüchten“. Die später getroffene Entscheidung „für die Gewährung scheinbar verfolgungsfreien Abzugs“, die darauf abzielte, die Täter in Sicherheit zu wiegen und so die Freilassung der Geiseln zu erreichen, ist von der Polizei durch eine Vielzahl von Observationspannen konterkariert worden.

Weil die Düsseldorfer Oppositionsparteien CDU und FDP aus politischen Gründen die Geiselaffäre immer nur als Beleg für das Scheitern einer „liberalen Innenpolitik“ in NRW sehen wollten, sind diese eigentlichen polizeilichen Fehler in der Öffenlichkeit kaum thematisiert worden. Zur Gewährung des „scheinbar freien Abzugs“ gab es in Gladbeck nie eine vertretbare Alternative. Der Erfolg - die Freilassung der Geiseln - dieser Strategie konnte aber nur eintreten, wenn die Entführer sich vor polizeilicher Verfolgung sicher fühlten. Im Zwischenbericht heißt es dazu: „Bei dieser Zielsetzung darf nur mit äußerster Vorsicht weit abgesetzt observiert werden; das Schwergewicht muß auf die Peilung gelegt werden.“

Zu einem ersten Zwischenfall zwischen den Geiselnehmern und einem Polizeibeamten kam es auf einer Gladbecker Tankstelle noch in der Nacht am 17.8. Um 0 Uhr 4. „Ein Diensthundeführer“, der laut Bericht „zufällig dort tankt, wird kurzfristig als Geisel genommen; Täter nehmen ihm Dienstwaffe sowie 2-m-Funkgerät ab.“ Im Bericht wird nun eingeräumt, daß „der Zwischenfall möglicherweise vermeidbar gewesen wäre“, wenn die Einsatzleitung alle Polizeidienststellen rechtzeitig informiert hätte. Die Täter wechselten wenig später das Fluchtauto, bemerkten aber nicht, daß sie just auf den präparierten Wagen angesprungen waren, den die Polizei geschickt als Köder plaziert hatte. Eine Stunde nach dem Fahrzeugwechsel erging die Weisung der Einsatzleitung, die Observation, die den Geiselnehmern und Geiseln aufgefallen war, einzustellen. Dazu der Einsatzleiter Meise vor dem Ladtagsausschuß: „Letztlich habe ich entschieden, die Sichtobservation in Gladbeck abzubrechen, um Ruhe einkehren zu lassen, die Täter fahren zu lassen, um letztlich die Chance zu haben, daß sie die Geiseln freilassen.“ Man habe das deshalb machen können, weil „wir das Fahrzeug jederzeit in der Peilung hatten.“

An diese Maxime hat sich die Polizei selbst nicht lange gehalten. Fünf Stunden später, um 6 Uhr 16 in Dortmund, hat die männliche Geisel Angehörige angerufen und mitgeteilt, daß „keine Freilassung erfolgt, wenn Polizei Verfolgung nicht abbricht“. Die erneute Verfolgung war also aufgefallen. Die Täter waren mißtrauisch, an eine baldige Freilassung war nicht mehr zu denken. Eine Enttarnung mag die Polizeiführung dennoch nicht eingestehen. Die Täter, so der Inspekteur der Polizei, hätten möglicherweise auch in Dortmund Privatpersonen als Polizeiangehörige eingeschätzt. Letztendliche Aufklärung verschaffen die Protokolle und Berichte für diesen Zeitraum nicht.

Sicher ist aber, daß die Polizei nach dem Abbruch um 1 Uhr 5 die Sichtobservation wieder aufgenommen hat. Dazu der Einsatzleiter Meise vor dem Landtagsausschuß: „Ich habe in Dortmund in den frühen Morgenstunden (06.20) die unmittelbare Sichtobservation wieder abbrechen lassen.“ Wieso hat er sie überhaupt wieder zugelassen? Warum hat die Polizei sich zu diesem Zeitpunkt nicht auf die Peilung und das Abhören beschränkt? Wurde hier nicht im Widerspruch zur eigenen Strategie die Verunsicherung der Geiselnehmer fahrlässig in Kauf genommen?

Die Observationsfehler wurden dann offenbar bis zur Erreichung der Vegesacker Rampe in Bremen um 13 Uhr 37 geheilt. Jedenfalls legen sowohl die abgehörten Gespräche als auch die späteren Vernehmungen der Gangster und Geiseln einen solchen Schluß nahe. Geiselnehmer Rösner in seiner Vernehmung am 19.8.88: „Ab Mittag des zweiten Tages hatten wir plötzlich das Gefühl, daß wir nicht mehr durch die Polizei verfolgt würden. Wir hielten uns jetzt im Raum Bremen auf. Dort wollten wir eigentlich die Geiseln freilassen.“ Rösner am 2.9.: „In dem ganzen Zeitraum, als wir in Vegesack waren, hatte ich das Gefühl, daß niemand mehr hinter uns her war.“ Eine Geisel sagt am 23.8. zur Situation in Vegesack, wo bekanntlich Rösner mit seiner Komplizin Löblich das Fahrzeug für längere Zeit verlassen hat: „Die Frau wollte noch zum Friseur... Zu diesem Zeitpunkt ging es meiner Überzeugung nach immer noch um die Beschaffung eines Leihfahrzeuges, damit wäre bzw. Sollte unsere Geiselnahme beendet werden. Die Stimmung war an sich gelöst.“ Die andere Geisel sagte am 15.9. aus: „Sowohl ich als auch die Täter, so meine ich zumindest, hatten wohl das Gefühl, unbeobachtet zu sein. Das war aber auch während der gesamten Zeit der einzige Zeitraum, für den ich das so sagen kann.“

Das „Gefühl“ wurde eineinhalb Stunden später von der Polizei selbst erneut zerstört. Die Täter hatten gegen 15 Uhr 5 vergeblich versucht, bei Inter-Rent ein neues Fahrzeug zu mieten. Der Versuch scheiterte, weil der Chef der Station nicht anwesend war. Die Täter sollten ein halbe Stunde später wiederkommen. In der Zwischenzeit machte sich die Polizei zur Station auf, sprach mit einem Angestellten, ohne sich jedoch als Polizei zu erkennen zu geben, wie es in dem „Zwischenbericht“ steht. Wörtlich heißt es weiter: „Beim Verlassen des Kassenraums der Tankstelle wurde gesehen, daß das Zielfahrzeug mit Rösner als Fahrer, auf das Gelände der Tankstelle auffuhr.“ Das Scheitern der Anmietung bei Inter -Rent führt die Polizei allein auf die Geschäftsgepflogenheiten des Unternehmens zurück. Im Bericht steht aber auch, daß Rösner und den Geiseln beim ersten Anmietversuch „zwei dunkle Golf aufgefallen“ seien, „aus denen telefoniert wurde“. Dabei habe es sich „nicht um nordrhein-westfälische Einsatzfahrzeuge“ gehandelt, heißt es im Bericht. Polizeibeamte waren es wohl in jedem Fall, denn in Bremen waren Fahrzeuge und Beamte aus Bremen, Niedersachsen, Hamburg und NRW im Einsatz, es herrschte ein großes Durcheinander.

Bei der später aufgesuchten Hansa-Autovermietung, bei der sich die Täter zu erkennen gaben, wurde dann ein neues, nicht präpariertes Auto erpreßt. Das Mißlingen der Anmietung habe bei Tätern und Geiseln „in Verbindung mit der Beobachtung von verdächigen Personen und Fahrzeugen“ zu „einem Stimmungsumschwung geführt“, heißt es in dem „Zwischenbericht“. Die geplante Geiselentlassung rückte erneut in weite Ferne. Danach folgte eine geradezu penetrant auffällige Sichtobservation, offenbar unkoordiniert von allen möglichen MEKs. Spätestens jetzt war die Polizeistrategie, die Täter in Sicherheit zu wiegen, durch eigene polizeiliche Fehler endgültig gescheitert. Die Geiselnahme eskalierte eben nicht wegen der mangelnden Einsatzbereitschaft und Präsenz der Polizei - was die CDU Innenminister Schnoor in immer neuen Variationen, zum Beispiel in bezug auf Vegesack vorwarf -, sondern wegen des unbeherrschten Verfolgungsdranges der polizeilichen Sonderkommandos verschiedener Bundesländer.