Gegen die Kontinuität des Verschweigens

Marianne Herzogs neues Buch hat einen programmatischen Titel / „Suche“ ist die Geschichte einer Adoption und ein Roman über die Ruhelosigkeit  ■  Von Maria Neef-Uthoff

Eine Frau flüchtet mit 18 Jahren aus der DDR in den Westen. Knapp zwei Jahre später kehrt sie zurück. „Ich werde nicht warm im Westen.“ Sie muß in ein Lager, von dort aus zieht sie zu einem Jugendfreund. Den heiratet sie später. Als sie schwanger ist, flüchtet sie erneut in den Westen. Es ist August 1961. Kaum ist sie drüben, hört sie vom Bau der Mauer.

Die Frau ist Marianne Herzog, bekannt durch ihre Buchveröffentlichungen, unter anderem Von der Hand in den Mund, Frauen im Akkord und Nicht den Hunger verlieren über ihre Erfahrungen im Gefängnis.

Was geschieht mit einer jungen Frau, die zwar den Alltag im Osten liebt, ihr ungeborenes Kind aber nicht der politischen Enge und Kleinlichkeit ausliefern will? Die in den Westen kommt, weil es sein muß und nicht, weil sie es unbedingt möchte? Die ganz allein ist? Marianne Herzog geht in ein Heim für schwangere Mädchen. Dort bekommt sie ihr Kind.

Das Buch, das sie jetzt geschrieben hat, heißt Suche. Es ist ihre Geschichte von damals und heute, ihr Festgehaltensein an der Vergangenheit, weil sie sich an ein Unrecht gebunden fühlt. Mit sehr feinen Beobachtungen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen persönlicher Geschichte, Politik und dem, was zu fühlen bleibt. Es ist auch eine Geschichte übers Reisen, über die Ruhelosigkeit beim Reisen und die Suche nach einem Ort. Einer ihrer Orte ist Kreuzberg in Berlin. Ihr Ort ist der Winter, das Eis, der Schnee, die Kälte. Sie schreibt. Gerade hat sie ihr Gefängnisbuch beendet. Ist fertig, ausgelaugt. „Ich kann nicht schon wieder isoliert auf einem Stuhl sitzen. Mache ich eine andere Arbeit, verlerne ich das Schreiben. (...) Das kann doch nicht das Leben sein, in einem Zimmer zu sitzen und sich auszupressen. (...) Muß ich von allem schreiben? Selbst von Serjosha?“ II

Serjosha ist das Kind. Vor 20 Jahren in einem Heim für alleinstehende Mädchen geboren. Als er anderthalb Jahre alt war, entschloß sich Marianne Herzog, ihn wegzugeben. „Ehepaare, die keine Kinder bekommen, adoptieren Kinder einer Frau, die nicht mehr weiter weiß.“

Ein heikles Thema. Für Mißverständnisse geradezu gemacht. Wer sich vor dem Aussprechen von Gefühlen fürchtet, wem es peinlich ist, andere trauern zu sehen, die sollten um Suche einen großen Bogen machen. Suche handelt von einer Adoption. Es ist die Geschichte über eine Frau, die nicht fertig geworden ist mit der Abgabe ihres Sohnes. Es ist die Geschichte über ein Unrecht, das man einem Kind zufügen mußte, weil man nicht anders konnte. Marianne Herzog hat seit jeher über Unrecht geschrieben. Bislang war es immer das Unrecht der anderen. Diesmal ist es ein eigenes. Suche hat nichts mit biologischer Mutterschaft zu tun. Es geht nicht darum, die leibliche Mutter zur besten aller Mütter zu erklären. Suche ist gegen das Verschweigen des Unrechts. Gegen das Zuschütten und Wiederneuanfangen, obwohl das alte Unabgeschlossene, undeutlich bemerkt, die ganze Zeit bei der Steuerung des Lebens die Hände mit im Spiel hat.

Heute, nach 20 Jahren, macht Marianne Herzog den verzweifelten Versuch, diesen Sohn wiederzufinden. Nicht, um ihn sich zu „nehmen“, sondern um ihm das Wissen über sich selbst zu geben, damit „seine Kräfte nicht gebunden sind“. Sie sucht ihn auch deswegen, um für das eigene Unrecht einen Ort zu finden. „Und ich, ich muß mich abnabeln. Ich bin mein ganzes Leben lang an diesen Abbruch gebunden.“

Sie findet die Adoptiveltern, spricht am Telefon mit der Mutter. Die ist sehr reserviert und ängstlich. Zwischen den Zeilen bekommt man gut mit, wie verrückt das Unternehmen von außen wirkt. Marianne Herzog schafft es, mit ihrer - wenn auch manchmal überzogenen - Bildersprache so zu treffen, daß das Absurde nur die Oberfläche berührt.

Das Buch kritisiert das gegenwärtige Adoptionsrecht. Daß die leibliche Mutter bei einer Adoption für immer zu verschwinden hat, gleicht einer Bestrafung. Nach dem Motto, wer sein Kind nicht haben will, ist eine Rabenmutter, ist in jedem Fall selbst schuld, verdient keine Barmherzigkeit. Und für das Kind ist es das Beste, es vergißt seine Herkunft, was immer ihm damals geschehen sein mag. Je schrecklicher es war, desto wichtiger sei das spätere Vergessen. So jedenfalls ist die Volksmeinung. Der leiblichen Mutter würde am liebsten der Hals umgedreht, sagt Marianne Herzog. Dabei will sie eigentlich nur eins: Ihr Sohn soll nicht mit einem Geheimnis leben, denn „wer ein Geheimnis hüten muß, kann nicht gehen, wohin er will“. Sie spricht ihn mit „Du“ an. „Du müßtest wissen, woher Du kommst und wie allein Du gewesen bist.“ III

Parallel zu der Geschichte ihrer Suche nach ihrem Sohn sucht sie nach den Dunkelheiten in ihrer eigenen Geschichte. Die Ursachen ihrer Ruhelosigkeit. Woher es kommt, daß sie Trennungen lebt. Sie besucht ihre Mutter in Ost-Berlin. „Ist denn niemals eine Unterbrechung von Verheimlichung möglich“, fragt sie, als sie entdeckt, daß sie selbst mit einem Geheimnis aufgewachsen ist, von dem sie nur die Auswirkungen gespürt hat. Auch wenn man nichts weiß, erlebt man das Zittern, sagt sie, und fragt sich, was Kinder sehen und wieder vergessen, was sich aber eingräbt als Gefühl und später Handlungen bestimmt.

Nicht Lösung, nicht Auflösung, sondern ein Schritt zur besseren Einsicht ist ihre Erkenntnis über die Angst, die ihre Mutter ausgestanden haben muß, als ihre Schwester geboren wurde. Die eine so blond und die andere so schwarz, sagten die Leute. Die Schwester ist das Kind eines Juden. Um dieses Kind wurde gezittert, direkt neben dem anderen Kind, dem blonden, das nichts verstand. Das sich alleingelassen gefühlt hat, weil die Kraft der Mutter nicht ausreichte. Bis heute schweigt die Mutter, auch gegen die Auflehnung der Tochter. „So sehr hast du mir eingebläut, daß über das, was du erlebt hast - über das, was ich nicht sehen kann -, nur zu schweigen ist.“

Marianne Herzog hätte ein absolut hervorragendes Buch geschrieben, wenn sie ein wenig nüchterner mit ihrer Muttersprache umgegangen wäre. Auf der Suche nach Genauigkeit und Präzision versteigt sie sich. Die Gefühle müssen beschrieben werden, komme, was da wolle. So nimmt sie mit den Fußsohlen „Glücksgefühle“ auf, läßt ihren Mund so sein „wie eine Muschel“, sagt, „meine Brandmale sind Trennungen“ und „eines Tages verrecke ich am Entzug von Deutlichkeit“. Das Überzogene stört, klingt nach Selbststilisierung und fordert dazu heraus, Selbstmitleid zu unterstellen, wo es sich mehr um stilistische Fehlgriffe handelt. Meistens aber, das muß der Gerechtigkeit halber gesagt werden, ist die Sprache angemessen einfach und still.

Marianne Herzog: Suche. Luchterhand Literaturverlag 1988, 29,80 Mark.