In Essens SPD wütet der Spaltpilz

SPD-Fraktion fordert Rücktritt ihres „arroganten und machtbesessenen“ Oberbürgermeisters / Der denkt nicht daran  ■  Von Petra Bornhöft

Berlin (taz) - Normalerweise werden in Essen spätestens um 21 Uhr die Rolläden runtergelassen, auch bei der SPD. Doch in den letzten Tagen „haben wir uns an Nachtschichten gewöhnt“, sagt ein Funktionär, der versichert, er bekomme für seinen Job kein Gehalt, sondern „Schmerzensgeld“. Pausenlos tagen Klüngel, Cliquen, Flügel und Parteigremien. Heillos zerstritten sind die Genossen. Die Rathausfraktion entzog diese Woche ihrem Oberbürgermeister, MdB Peter Reuschenbach, das Vertrauen - ein bisher wohl einmaliger Vorgang im Ruhrgebiet. Doch der von den eigenen Genossen öffentlich als „arrogant und machtbesessen“ Kritisierte denkt nicht an Rücktritt. Parteibasis, Gewerkschaftsfilzokraten und Öffentlichkeit stehen Kopf. Gestern wurde NRW-Finanzminister Heinz Schleußer als „Makler“ in die Schützengräben eingeflogen. Am Abend erhielten die 35 Ortsvereinsvorsitzenden der 12.000 Parteimitglieder das Wort.

32 Jahre lang hatte es in Essen geordnete Verhältnisse gegeben: eine klare Alleinherrschaft der traditionell konservativen SPD. Nur hauchdünne Bruchlinien markierten die Differenz zwischen der „Betonfraktion“ und der „Sozialfraktion“, und bei Konflikten wurde gekittet und sozialdemokratische Geschlossenheit hergestellt. Problematisch und verworren wurde es, als die Partei 1984 Reuschenbach zum OB erkor.

Sie hatten einen Mann mit Hang zum Multifunktionär gewählt: MdB, OB, Parteivorsitz - acht Ämter in lokal entscheidenden Aufsichtsräten und Kuratorien vereinigt er derzeit auf sich. Von Beginn an, so seine heutigen Gegner, „hat er sich als Kanzler von Essen verstanden“. In der Tat wollte Reuschenbach sich nicht auf die laut Gemeindeordnung vorgeschriebene Repräsentativfunktion seines Amtes einlassen, sondern begriff sich als „politischer Oberbürgermeister“. So regierte er seine Genossen, widersprach öffentlich Fraktionsbeschlüssen, rügte die Parlamentarier oder ignorierte sie einfach. Erstmals knallte es Silvester 1987: Der damalige Fraktionschef warf das Handtuch, verschwieg aber solidarisch den Groll über Reuschenbach. Politisch hatte der Beton- und Atommann Rückendeckung bei der Mehrheit.

Doch im November ging er zu weit: Nachdem die Presse ein Beispiel „maßloser Filzokratie“ bei der kommunalen Stellenbesetzung angegriffen hatte, signalisierte auch Reuschenbach seinen Unwillen. Außerdem unterstützte er den Sturz des als liberal und „auf Integration bedacht“ geltenden Unterbezirksvorsitzenden Peter Heinemann (52), Sohn des früheren Bundespräsidenten. Heinemann, erst seit 13 Monaten im Amt, so zeterte die Mehrheit des Parteivorstandes, habe sich „parteischädigend verhalten“ und treibe einen „Keil zwischen Partei und Fraktion“. Nach Begründungen gefragt, kann kein Sozialdemokrat eine erhellende Antwort geben außer der: „Im Parteivorstand hat eine andere Gruppe die Mehrheit als in der Fraktion“. Heinemann platzte der Kragen. Er trat zurück und sprach öffentlich aus, was viele dachten: „Machtarroganz und Machtbesessenheit eines Einzelnen (gemeint ist Reuschenbach

-d.Red.) zerstören demokratische Strukturen.“ Die im Parteivorstand Unterlegenen nutzten ihre Fraktionsmehrheit zum Gegenschlag und entzogen Reuschenbach das Vertrauen.

Der erklärte lakonisch: „Ich trete nicht zurück“ und organisierte seine Bataillone. Die Geschäftsführer der großen Gewerkschaften und des DGB stellten sich hinter Reuschenbach, desgleichen die Arbeiterwohlfahrt. Mit großen Anzeigen in der Lokalpresse trommelt „die Clique um OB Reuschenbach“ (Ex-Fraktionschef) für ihren Platzhirsch. Kommentar von der Basis: „50 Wichtigtuer diskreditieren alle anderen 11.950 Sozialdemokraten. Ihr Kungelbetrieb ist Verrat an denjenigen, die sich für den demokratischen Sozialismus einsetzen“. Die Wut der Reuschenbach-Gegner hat Grenzen. Sie werden nicht mit CDU und GAL für seine Abwahl im Rat stimmen, sondern arbeiten auf Neuwahl des kompletten Vorstandes auf einem Sonderparteitag im Januar hin. Ob dann der amtierende Spitzenkandidat für die Kommunalwahl 1989, Reuschenbach, seinen Hut nehmen muß, ist mangels Alternativen zweifelhaft. Mit Grauen sehen Funktionäre der Zukunft entgegen. Einer hat sich bereits eine „Hornhaut auf Leib und Seele“ zugelegt, „sonst wäre ich morgen in der Irrenanstalt oder unter der Erde“.