Von der Freien zur „BeFreiten Universität“

■ StudentInnen-Streiks am Beispiel Berlin: „Autonomes Lernen“ als Vorwegnahme der Anderen Universität

Bundesweit gärt es an den Universitäten. Wo es zum Teil noch ausschließlich um die materielle Misere geht, ist an anderen Punkten bereits Lernen und Lehre in den Mittelpunkt der Kritik gerückt. In Berlin versuchen sich die Studenten seit nunmehr zwei Wochen an einem selbstorganisierten Universitätsbetrieb.

„Wir lernen hier für die BASF“ ist mit roter Farbe an eineTreppe der seit zwei Wochen „befreiten“ Freien Universität im Berliner Vilenviertel Dahlem gesprüht. Es ist kurz nach zehn. Langsam werden die Schlafsäcke eingerollt und die Frühstücksbrote geschmiert. Im Frauencafe „Furiosa“ tagt schon eine Frauengruppe. Zur Gentechnik hat an diesem Morgen bereits ein „autonomes Seminar“ begonnen, „interdisziplinär“, mit StudentInnen aus Geistes- und Naturwissenschaften. Andere StudentInnen treffen sich gerade zum Thema „Zensur“. Gleich beginnt ein anderes „autonomes Seminar“ zum Thema „alternative Unistrukturen“, die Studenten und Studentinnen stehen noch unschlüssig vor einer Tür, weil in dem für sie vorgesehenen Raum ein Streikender noch seelenruhig schläft.

Eine Frau schreibt die nächsten Termine auf eine Stellwand. Viele, „autonome Seminare“ müssen angekündigt werden, sie sind wie Pilze aus dem Boden geschossen, als kleine Vorboten der „anderen“ Universität.

Ein kleiner Ausschnitt, an einem beliebigen Morgen nach zwei Wochen bestreikter Uni. Jahrelang ist es an dieser Universität, die einst mit der 68er-Studentenrevolte Furore gemacht hat, ziemlich ruhig gewesen. Reaktionslos haben die Studenten es hingenommen, daß sämtliche Reformen Stück für Stück wieder zurückgenommen wurden.

Erst die letzten Beschlüsse des zunehmend stärker durch die Politiker beeinflußten Kuratoriums bildeten jenen Tropfen, der das Faß zum überlaufen brachte: Im Rahmen des „Strukturplans für die 90er Jahre“ wurde Ende November beschlossen, eine „Umorganisation“ vorzunehmen, die die traditionell von den Linken geprägten Fachbereiche aushebeln soll: Das von der Umorganisation mit der Schließlung bedrohte Lateinamerika-Institut wurde besetzt, und da sprang der Funke auf einmal über: Die Erfahrung mit der Wohnungsnot, die Unzufriedenheit mit einem Lehrbetrieb an einer völlig überfüllten Universität gärte fast überall. Und der Ruf nach mehr staatlichen Mitteln für bessere Studienbedingungen, die Forderung nach billigem Wohnraum taucht darum in jedem Flugblatt auf. Dafür schlägt den StudentInnen überall Verständnis entgegen, und kaum eine Woche nach dem Streik gab das Berliner Abgeordnetenhaus grünes Licht für weitere 20 Millionen Mark im nächsten Jahr.

Doch zu diesem Zeitpunkt war aus dem Streik längst mehr geworden als ein Kampf um mehr Stellen, kleinere Seminare und billigeren Wohnraum. „Es geht uns um die Herstellung der Autonomie der Universität zum Zweck einer kritischen, problem- und konfliktorientierten Wissenschaft“, heißt es in einem Resolutionsvorschlag aller Fachbereiche. Gleichzeitig wird mehr Mitbestimmung verlangt: „Mindestens eine Viertelparität“ fordern die StudentInnen für sich in allen universitären Gremien. (Die übrigen drei Viertel sollen gleichermaßen unter Professoren, Mittelbau und sonstigen Univeritätsangehören aufgeteilt werden.) Die 50%-Quote und die feministische Forschung taucht in nahzu allen Streikflugblättern auf, obgleich diese Forderung vor allem von der männlichen Kollegenschaft aus den Naturwissenschaften weit weniger getragen wird.

Das Innenleben dieser „beFreiten“ Universität zeugt sehr klar von der politischen Dimension des Streiks. Die „autonomen Seminare“ - inzwischen über dreihundert - sind ein Versuch, die „andere“ Universität bereits im Kleinen zu erproben. Manche finden mit DozentInnen statt, die dem Streik gegenüber solidarisch gestimmt sind, in den meisten diskutieren die StudentInnen jedoch unter sich. Manchmal haben sich die StudentInnen etwas überlegt, was ihrer Fachrichtung so nie angeboten würde: Veranstaltungen bei den Medizinern zum Beispiel, die das Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft oder die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus unter die Lupe nehmen. Überhaupt wird ganz generell Faschismusforschung an den jeweiligen Instituten verlangt. Einige dieser Seminare werden ganz bewußt „interdisziplinär“, mit Studenten verschiedener Fachrichtungen also, geplant, etwa zum Thema Faschismus und Musik.

Die Politologen haben ihr Gebäude sogar richtig besetzt und lassen keinen Dozenten herein: „Weitergehende Diskussionen um Selbstbestimmung und um eine kritische, nicht an Wirtschaftsinteressen orientierte Wissenschaft hätten sonst nicht stattfinden können“, heißt es in einem „Info“.

Doch es geht in diesen Seminaren nicht nur um andere Inhalte, sondern auch um „die Form“, wie die Studenten und Studentinnen sagen: „Das läuft anders, alle trauen sich was zu sagen, die üblichen Redehemmungen sind weg, und auch die Frauen melden sich eher zu Wort“, erzählen die StudentInnen fast mit leuchtenden Augen. Auch das sei Teil der „anderen“ Universität, berichtet eine Chemiestudentin: „Man hat das Gefühl, das man mehr lernt, dadurch, daß man sich mehr einbringen kann“.

Das verweist auf andere Dimensionen des Streiks. Die Streikenden proben voller Eifer die direkte Demokratie. Sie haben eine Art Rätesystem etabliert: Ein „Besetzungsrat“ regelt die organisatorischen Fragen; ein „Inhaltsrat“ feilt an konsensfähigen Forderungen, der „Kulturrat“ kümmert sich um die gute Laune, und ein „Presserat“ soll die Öffentlichkeit mit allem versorgen, was basisdemokratisch beschlossen worden ist. Das ist mühsam und dauert oft Stunden, weil die einzelnen Fachbereiche ihre Leute nur mit einem imperativen Mandat entsenden: Sie dürfen dort nur vertreten, was ihre Vollversammlung beschlossen hat. Gleichzeitig sollen die Mitglieder der Räte rotieren, und außerdem soll möglichst alles nach dem „Konsensprinzip“ entschieden werden. Allein die Frage, wer - und unter welchen Bedingungen - dem Südwestfunk ein Interwiew geben darf, nimmt den „Inhaltsrat“ fast zwei Stunden in Anspruch. „Das hält man nicht aus“, sagt ein Student, der kopfschüttelnd zur Tür herauskommt. Die Zeit wollen sich allerdings wohl die meisten nehmen: „Das muß so sein“, sagt eine, die beim Presserat arbeitet: „Denn sonst hat schnell eine kleine Gruppe alles in der Hand, und diejenigen, die sonst auch im Hintergrund standen, wären wieder ausgeschaltet“.

Ursel Sieber