Ungnädiger Neujahrsmorgen

■ Wie Pastor Gock der Domgemeinde die Gnade verklogfiedelt

„Der Prediger schweigt jetzt. Gott sei Dank!“ Die Predigt war zu Ende, das hallende Echo schleppte noch diese ungewöhnliche Danksagung durchs Domgewölbe, da kletterte der Pastor Gock schon das Treppchen von der Kanzel hinunter und setzte sich unter die fünfzig Gemeindeschafe, die Neujahrsmorgen pünktlich 10 Uhr im Dom erschienen waren. Die Schlußsentenz hatte die beiden unvereinbaren Botschaften auf den Punkt gebracht, die schon die gesamte Predigt über den 89. Psalm so merkwürdig schillern lassen hatten. Da predigte einer von der Gnade des Herrn und der Wahrheit für die, die ihm treu sind, stets im Ton des unaufhörlich -unerschütterlich großen Erstaunens, das nun mal zum protestantischen Sprachgewand so sicher gehört wie zum Talar das Bäffchen. Und dann kommt er urplötzlich, - je kärglicher die Vorbereitung, desto spontaner die Einfälle - auf den Tannenbaum vor dem Hochaltar. Von der Gnade der Weihnacht nimmt man nämlich nichts ins neue Jahr mit rüber, wenn man aus Spargründen den Weihnachtsbaumstecker rauszieht, und Schluß ist mit dem Erleuchtung! Die erbaulich dösenden Gemeindemitglieder tauschen aufgeschreckte Blicke ob der hereinbrechenden Konkretheit und des abgeschalteten Baums. (Apropos Konkretheit: die weibliche Domgemeinde trägt zu 80 % Kappe, gewirkt, gestrickt, gefilzt und in jeglicher Farbe) So geht es nicht, liebe Gemeinde, oder wer immer da am Stecker gezogen hat, so wird man der Gnade nicht teilhaftig. Und am Vorabend rumballern und damit die „heidnischen Götter“ ( hat er gesagt, heidnische Götter!) vertreiben, bringt es auch nicht. Einige aber hätten ja doch noch den Weg in den Gottesdienst wieder gefunden -, Gottseidank, der Pastor klingt wieder gnädiger, wir entspannen unter den Kappen.

Doch der Versuch zu seelsorgerlichen Freude bleibt süßsauer, ich als Gemeinde hätte Zweifel, ob es dem Seelenhirten nicht lieber gewesen wäre, ich wäre NICHT heute morgen erschienen und hätte den Hirten zum Predigen NICHT genötigt. Die Gnade, die da den Treuen versprochen wird, hat permanent diese bedrohlichen Untertöne: Zum Beispiel steht es schlecht mit der Gnade für die, die das Leben nicht achten, ehe es geboren ist. Meingottmeingott, steht das auch im 89. Psalm, daß Gnadenteilhabe und Abtreibung sich ausschließen? ( Daß Gott dem Auserwählten verspricht:“ Ich will ihm ewiglich Samen geben...“, läßt ganz andere Schlußfolgerungen zu).

Andererseits hat der Mann Recht, eine Gnade ist es nicht, am Neujahrsmorgen predigen zu müssen. Die Kollegen Abramzik und Motschmann haben schon Silvesterabend um 5 Uhr, und heute morgen schuftet außer den Müllfegern vor dem Dom nur noch der Gock in ihm.

Uta Stolle