„Das wird ein Jahr der Rückblicke“

■ Waschen, schneiden, stöhnen - Der Friseur übt Rückblick für 1988 und 1989 gleich mit in einem Aufwasch

Wer es schon mal versucht hat, weiß, wie schwer es ist, hinter sich zu blicken, und zwar ohne den Kopf zu wenden. Denn der Blick geht nach vorn, so jedenfalls wollen es die Spezialdemokraten nach diesem Jahr des Rücktritts und Rückschritts. Rückblick ist jedenfalls angesagt.

Der Friseur grinst: „Wenn ich daran denke, wer alles Haare verloren hat - Brückner, Meyer, Euler - wer alles neu gewellt wurde - Sakuth, Kunick, Lemke - wer alles immer noch den gleichen Stil pflegt - Franke, Grobecker, Wedemeier. Ist Dir eigentlich schon mal aufgefallen, warum keine neuen Frisuren mehr in Mode kommen?“

„Ne“, sag‘ ich und schaue in den Spiegel, „ich hab‘ dies Jahr nämlich Frisurwechsel gemacht. Die lichten Stellen werden deutlicher jetzt. Nur Mut. Und Hut.“

„Damit die alten Zöpfe nicht so auffallen, das ist Parteibeschluß - geheim, versteht sich. Jeder muß die Frisur behalten, die er schon immer trägt. Gibt keine Ausnahme von der Regel.“

„Aber ich hab‘ doch auch meinen Schnitt gewechselt. Dann könnten doch die gutdotierten Haarträger mal einen Sondergang zum Coiffer einlegen.“

„Aber Du mußtest ja nicht zurücktreten“, erwidert der Friseur. Und er sieht dabei ziemlich kränkelnd aus.

„Was hat denn nun das Jahr gebracht“, frage ich, weil der Friseur ein Resümmee versprochen hatte und ich seit geraumer Zeit auf seine einschätzenden Worte warte.

„So gesehen, ne Menge,“ antwortet der Friseur, „und andersrum wieder garnichts.“

„Aha“, bemerke ich.

„Also ersten, trotz Schwarzgeldklinik, Geiseldrama und den parteiüblichen Skandalen bleibt alles beim alten. Die paar Verschiebungen sind nicht der Rede wert. Und dann zweitens, trotz der leichten Gesichtskosmetik, ist manchem - und es werden immer mehr - klar geworden, daß sie von dem ganzen Frisurenkabinett nichts zu halten haben. Die Metz-Kudella -Klein-Neumann-Riege inklusive. Und drittens war ja 88 auch ein Schnapsjahr, das wird nächstes Jahr besser.“ Rückblick auf nächstes Jahr

„Soso“, füge ich ein, damit ich auch ein wenig Text habe.

„Und viertens, wer will denn dem Bürgermeier wirklich wünschen, daß er abtritt? Doch nur die Grünen? Aber um dann 'Fücks for president‘ zu rufen?? Wessen Ernst soll das sein?“

„Also warten wir's ab und warten auf 1989“, sage ich statt einer Antwort.

„Das wird ein Jahr“, sagte der Friseur, „und hauptsächlich wegen der Jahrestage“. Und er fängt an aufzuzählen: „200 Jahre französische Revolution, 70 Jahre deutsche Revolution, 40 Jahr DDR, 30 Jahre kubanische Revolution, 10 Jahre Nicaragua libre. Was meinst Du, was das für einen Taumel gibt. Und immer wieder die Tassen hoch. Ein ganz starkes Jahr!“

„Und China nicht vergessen“, füge ich an, „auch 40 Jahre her“.

„Im Rathaus geht schon die Lotterie los, wer zu welcher Feier fahren darf. Es gibt nur eine Niete dabei. Jede SenatorIn kommt zweimal dran, und die VerliererIn muß in die Hauptstadt nach Berlin. Obwohl da auch einiges verkamsematuckelt werden wird.“

„Und Du“, frage ich den Friseur, „wohin willst Du? „Immerhin ist er ja ein alter 68er, der sich für seinen neuen Job nicht schämt.

„Ich muß dableiben, Spar-Etat.“

Den Blick des Friseurs in diesem Moment werd‘ ich nie vergessen. Da lag so etwas dackelmäßig Trauriges drin, verdammt.

Auf jeden Fall alles Gute im Jahr der Revolutionen. Euer Friseurbeauftragter Ali

P.S.: Und nicht vergessen: Die taz wird 10 Jahre alt, und zwar im April.