NIEDER MIT DER KLEINFAMILIE

■ Im Theater zum westlichen Stadthirschen siegt „Penelope“ über die Schattenwelt der Leonora Carrington

Es beginnt alles wie im Märchen. Es war einmal... und seitdem ist viel Zeit vergangen, die Rosenhecke mit den spitzen Dornen ist noch ein bißchen höher gewachsen und hat das Schloß und mit ihm das Turmzimmer, in dem das wunderschöne Dornröschen schläft, gänzlich von der Außenwelt abgeschlossen. Es ist gar nichts mehr von ihr zu sehen. Nur noch die Sage berichtet vom hundertjährigen Schlaf, in dem das ganze Schloß und der Hofstaat liegen. Die Fliegen schlafen an der Wand, der Koch in der Küche, die Tauben auf dem Dach und die Pferde im Stall. Aber bevor jetzt ganze hundert Jahre vergehen, bis die Gebrüder Grimm wieder einen Königssohn vorbeischicken, beginnen die westlichen Stadthirschen ihr neues Stück „Penelope“ von Leonora Carrington.

Da werden von der alten Nanny und ihrem Schützling Penelope die Spielzeugpuppen aus dem Märchenschlaf geweckt, die in der abgeschlossenen Welt des Mädchenzimmers ein ganz reales Kinderleben führen. Treten die anderen ein, der ältere Bruder, der Vater oder die Verwandten, dann sinken sie alle, Puppe, Katze und Kuh, der Vogel und Tartar, das Schaukelpferd, gleich wieder zurück in Schlaf. Die Monstren jedoch, die (der Schlaf der) die Vernunft gebiert, das sind hier nicht Trieb, Lust und Liebe zu Tartar, sondern Vater, Verbot und Strafe. Bald aber bricht die Zivilisation vollends ins Kinderzimmer ein und zerstört den goldenen Käfig. Dem Mädchen drohen Domestizierung, Initiation und Einführung in die Gesellschaft. Am Geburtstag wird es klar: Egal ob Pferd oder Tartar, grüßen sie Herrn Freud zurück, auch Effi ließ das Schaukelglück. Nur ist, was bleibt, kein weites Feld, vielmehr die enge Gouvernanten-Welt.

Hella Strehlke als Aufpasserin Madame Rochefroide zeigt in der hysterisch-geilen Schlußszene mit Philippe Quatrepieds Dominik Bender spielt, gut wie immer, die animalischen Seiten des aristokratischen Zweibeiners zwischen Party-Löwen und Fantomas - wie diese viktorianisch-prüde Person neben dem sinnlichen Mädchen vor allem selbst zu Fels erkaltet ist.

Verbot und Tod spalten der Welt surreale Züge ab. Zu Beginn wird noch harmlos unmöglich im ewigen Schnee englisches Krocket gespielt, als ein totgeschossener Hase über'n Sandberg Schlittschuh lief. Später öffnen sich die Gräber.

Davon hat Leonora Carrington gewußt, deren Autobiographie ständig durch das Stück durchscheint. Die englische Millionärstochter, schon als Schulmädchen aus dem Rahmen gekippt und für geistig zurückgeblieben gehalten, trat bald darauf die Flucht nach vorn an. Malend und schreibend rettete sie ihre Haut mehrfach aus dem Irrenhaus, verband sich mit dem surrealistischen Maler Max Ernst und lebt hoch betagt und noch künstlerisch aktiv in Mexiko.

Wie auf surrealistischen Gruppenbildern die Nackte zwischen den Anonymen, Passanten, Mördern mit Bowler und im dunklen Anzug, so steht die schlicht gekleidete Adriana Altaras in der Titelrolle zwischen den Verwandten in ihrer gesellschaftlichen Verkleidung. Überhaupt, die szenische Umsetzung durch das Theater zum westlichen Stadthirschen verleitet den Zuschauer zum Kreuzworträtsel (Gemahlin des Odysseus?) oder Bilderraten. Da taucht das Gespenst, der Geist der Mutter, mit Namen Helene (Ingrid Fink, doch eine Tochter der Jeanne Moreau?) auf, und streitet nicht nur wegen ihrer Kriege heraufbeschwörenden Schönheit mit Penelope, die treu ist dem Schatten seiner selbst, dem Tartar(us), nein, sie trägt auch noch das bleiche Nachtkleid mit den festgefrorenen Brüsten, das bislang auf dem Bügel der Kunstgeschichte hing.

Kleidet sich die alte Amme (Elisabeth Zündel) der Penelope, die sich so schön an die romantischen Zeiten erinnern kann, in die Tracht und Haube der Dienstboten eines niederländischen Genrebildes, so schmückt die Kuh (wieder Hella Strehlke, jetzt ländlich derb und offenherzig) des Kinderzimmers als prophetische begabte Muttergöttin, der vor wirklich langer Zeit in Ephesos die jungen Mädchen ihre Spielsachen opferten, die vielbusige Brust der Artemis. Besonders sind es die optischen Effekte der Inszenierung, Kostüm (Barbara Rückert), der von goldenen Säulen und einer fahrbaren Blechwand strukturierte Raum (Nina Weitzner) und das schöne, übernatürliche Licht (Urs Hildebrand), mit denen die westlichen Stadthirschen die Zuschauer in den Bann der Welt der Leonora Carrington zu schlagen wissen.

Penelope selbst wünscht sich „eine Geschichte, die ich schon kenne. Etwas sehr Altes und ganz Alltägliches... wie die Liebe zum Beispiel“. Und sie hat Glück, denn zwischen kindlicher Phantasie und surrealer Gewalt, vor der Erfindung der Kassen-Analyse, war alles nur gespielt, und es gibt ein Happy-End: Frank Sinatra schmilzt im Sommerwind. Tartar trägt seine Penelope doch auf den Armen...

Und dann wurde die Hochzeit in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.

Susanne Raubold

In der Kreuzbergstraße 37, Do bis So um 20 Uhr, Kartenvorbestellung ab 18 Uhr unter Tel.: 785 70 330.