Das dritte Auge

■ Einiges über Alexandre Trauner anläßlich einer Berliner Ausstellung über den Filmbildner, der für die Ausstattung von Filmen wie „Irma la Douce“ und „Les enfants du paradis“ verantwortlich zeichnet

Gerhard Midding

Die Ausstattung eines Films ist in dem Maße unsichtbar, in dem auch seine Musik unhörbar ist: am ehesten noch wird sie wahrgenommen als Mangel oder als Überfluß. Alexandre Trauner hat seine Dekors zwar immer als erzählendes Moment begriffen, als eines, das sich nicht zum Objekt der Inszenierung erhebt, sondern vielmehr als ein Bestandteil in ihr aufgeht. Dennoch ist seine Arbeit sichtbar: nicht als dekorative Prachtentfaltung, wohl aber als Facettenreichtum sprechender Details, in dem sich eine Atmosphäre verdichtet.

Seine Studiobauten sind zu einem Synonym geworden für das Bild, welches sich das Kino in Filmen wie Hotel du Nord, Les enfants du paradis, Irma la Douce und Around Midnight von Paris geschaffen hat und das beruhigend wenig abweicht von den Ansichten der Seine-Metropole, die - einige Generationen zuvor - Maurice Utrillo mit der Staffelei und Eugene Atget mit dem Fotoapparat eingefangen haben.

Doch auch wenn Trauner eine entlegene Mission im Kongo, eine puritanische Kleinstadt mit dem Namen 'Climax‘ im amerikanischen Mittelwesten oder die Londoner Bakerstreet No. 221B rekonstruiert, kann sich der Zuschauer der Glaubwürdigkeit der Dekorationen anvertrauen und den Geschichten der Filme folgen.

Trauners Karriere nachzuzeichnen, bedeutet ein Kapitel Filmgeschichte aufzuschlagen, das von den Anfangstagen des französischen Tonfilms bis in die Gegenwart reicht und noch nicht abgeschlossen ist.

Trauner wurde am 3.September 1906 in Budapest geboren und besuchte in den zwanziger Jahren die Malereiklasse der dortigen Akademie der Schönen Künste. Seine ersten Arbeiten konnte er schon 1925 öffentlich ausstellen, verließ jedoch bereits wenige Jahre später mit Studienkollegen auf Anraten ihres Lehrers seine Heimat, in der unter dem Regime des Reichsverwesers Horthy der Faschismus einzog. In Paris nahm Trauner - zunächst nur zum vorläufigen Broterwerb - einen Job als Maler in einem Filmstudio an, traf dann aber Lazare Meerson, der als Ausstatter Rene Clairs und Jacques Feyders das französische Kino des späten Stumm- und frühen Tonfilms entscheidend mitprägte. Er assistierte Meerson bei Sous les toits de Paris und fand in ihm seinen Lehrmeister. Meerson arbeitete seine sehr freien Skizzen erst allmählich, sogar noch während der Dreharbeiten aus und ermutigte so die kreative Mitgestaltung seiner Assistenten, zu denen damals auch Max Duoy und Jean d'Eaubonne zählten, die später ganz andere Wege gingen als Trauner; Duoy war einem schroffen Realismus zugetan, d'Eaubonne, zumal als Ausstatter Max Ophüls‘, einem arabeskenreichen, barocken Stil.

Als alleinverantwortlicher Filmbildner debütierte Trauner in der Ära des „poetischen Realismus“. Seine sich dem Naturalismus verweigernde Auffassung des Dekors fand die stärkste Affinität zu den Szenarien Jacques Preverts und ihrer Verquickung von realistischer Alltags- mit einer ornamentreichen Kunstsprache. Prevert und den Regisseuren Marcel Carne und Jean Gremillon loyal verbunden, verließ der Jude Trauner auch während der deutschen Okkupation, trotz lukrativer Angebote aus Hollywood, seine Wahlheimat nicht, fand Freunde, die als Strohmänner für die Dekors von Les visiteurs du soir und anderen Filmen verantwortlich zeichneten und hielt sich ansonsten in Preverts Haus in Tourette-sur-Loup versteckt.

Ab Mitte der fünfziger Jahre arbeitete Trauner auch international, insbesondere in Hollywood, für Regisseure wie Hawks, Wilder, Zinneman und Dassin. Sein Dekor zu Billy Wilders The Apartment wurde mit dem 'Oscar‘ ausgezeichnet.

Mitte der siebziger Jahre wandte er sich wieder verstärkt Projekten in Frankreich zu, erhielt 'Cesars‘ für seine Dekors der Joseph-Losey-Filme M.Klein und Don Giovanni und Luc Bessons Subway. In Frankreich wurde er vornehmlich von einer jungen Regisseurgeneration wiederentdeckt, wohl auch, weil sich diese durch seine Mitarbeit einer Kontinuität zum 'Goldenen Zeitalter‘ des französischen Vorkriegsfilms zu versichern suchten. Obwohl sich Trauner zeitlebens mit der Malerei (und darüber hinaus mit dem Bühnenbild und der Ausstattung der Wohnungen seiner Freunde) beschäftigte, werden hauptsächlich seine Arbeiten als Filmbildner mit Ausstellungen gefeiert, 1980 in seiner Geburtsstadt Budapest, später in Paris, Lyon, Telluride und nun auch in Berlin.

Trauner beschreibt seinen Beruf als „un metier de somnambule“, einen, in dem sich keine Routine einstellen will, in dem jeder Film den Ausstatter vor neue, unbekannte Probleme stellt. Die großen, komplexen Sets sind nicht notwendigerweise auch die am schwersten zu bewältigenden Aufgaben. Dazu zählt Trauner vielmehr Räume, die ihrem Wesen nach bar jeder Individualität sein müßten, denen er aber immer wieder einen persönlichen Charakter einzuhauchen vermag: Hotelzimmer vor allem.

Trauners Arbeitsmethode sieht drei grundlegende Phasen vor, als deren wichtigste er die erste, die der Recherche, begreift. Seit der Zusammenarbeit mit Prevert ist er daran gewöhnt, schon früh in den Schaffensprozeß, bestenfalls in das Drehbuchstadium einbezogen zu werden: bei der gemeinsamen Schauplatzsuche ließ sich der Dichter für das Drehbuch inspirieren, während der Ausstatter Landschaften und Stadtbezirke studierte und mit dem Fotoapparat dokumentierte. In Trauner-Filmen, zumal wenn sie in Paris spielen, vollzieht sich der Übergang von realen Schauplätzen zu Studiobauten nahezu bruchlos. Sein Auge ist unbestechlich - ein Film wie Rififi registriert sehr präzise in seinen Innen- und Außendekorationen den architektonischen Wandel im Paris der Nachkriegszeit. Sein Authentizitätsanspruch geht weiter über den bis in die vierziger Jahre geltenden Hollywood-Standard hinaus, der sich mit einer „europäischen Straße“ auf dem Studiogelände begnügte, die - geringfügig umdekoriert - gleichermaßen als Szene in Wien, Paris oder Berlin durchgehen konnte.

In der zweiten Arbeitsphase konkretisiert sich die Vorstellung, die Idee in der Zeichnung. Trauners Selbstverständnis ist eher das eines Malers denn das eines Architekten: seine Skizzen und Aquarellzeichnungen sind zuallererst Illustrationen, die er ebenso wie die Modellbauten auch für Schwarzweißfilme in Farbe anfertigt. Ihnen eignet eine Ökonomie des Stils - karge, extrem perspektivisch aufgefaßte Entwürfe offenbaren bereits die Form und Atmosphäre des Sets, selbst wenn sie sich von der endgültigen filmischen Realisierung unterscheiden mögen. So ist beispielsweise in den Skizzen zur Wohndiele der Villa in Fedora schon die Strenge des Raumes bis hin zur Anordnung der Kerzen und Fotorahmen auf dem Klavier erkennbar. Billy Wilder nennt Trauners Fähigkeit zu sehen, wie ein Set durch die Kamera aufgenommen wird, dessen „drittes Auge“. Die Zeichnungen, deren Format immer auch das Format der Leinwand (zum Beispiel Cinemascope) berücksichtigt, sind durchaus schon als Einstellungen begriffen, in denen die Position der Protagonisten, aber auch die des Lichtes, mitgedacht ist.

In der dritten Phase, der realistischen Ausführung der Zeichnungen, erweist sich der intime Bezug von Dekor und Inszenierung. Innenräume besitzen eine Offenheit, die eine extreme Bewegungsfreiheit der Kamera zulassen. Schwingtüren, Durchgänge, offene Bogentüren laden zum Wandeln ein, lassen die Kamera in Aimez-vous Brahms? die Atelierwohnung Ingrid Bergmans nach und nach erforschen, richten in Filmen wie Kiss me stupid und The Private Life of Sherlock Holmes den Blick in die Tiefe des Bildraumes. Wände, von Durchreichen oder Milchglasfenstern durchbrochen, symbolisieren eher eine Abtrennung, als daß sie die Räume wirklich voneinander isolierten. Lichte Räume, wie beispielsweise der Speisesaal des Hotels in Lumiere d'ete (Regie: Gremillon), lassen den Zuschauer die Landschaft wahrnehmen und tragen zusätzlich, im Falle des zum luftigen Reisebus umgebauten Erntewagens in Voyage Surprise (Regie: Pierre Prevert), der Unbestimmtheit des Reiseziels Rechnung. Die Rue Casanova, Hauptschauplatz von Irma la Douce, war so angelegt, daß die Kamera das Dekor in einem Schwenk von 360 Grad aufnehmen konnte. In Witness for the Prosecution mußte sich Wilders Inszenierung der Gerichtsszenen nicht auf einige wenige Kamerapositionen beschränken, denn die aus solider österreichischer Eiche gefertigten Sitzbänke des 'Old Bailey‘ waren beliebig verschieb- und verrückbar. Das Problem, die Vielzahl verschiedener Schauplätze eines Waldes auf kleiner Studiofläche zu schaffen, löste Trauner in Juliette ou la cle des songes (Carne), indem er echte, nicht transportable Bäume mit solchen aus Gips kombinierte, deren Position sich vermittels Flaschenzügen verstellen ließ. Demgegenüber entstand die Klaustrophobie des Zimmers von Jean Gabin in Le jour se leve (Carne) gerade daraus, daß die vier Wände des Sets unbeweglich waren wie die einer Todeszelle.

Trauners bekannteste Dekors sind zugleich auch seine spektakulärsten. Die Rekonstruktion des Boulevard du Crime stellte während der Dreharbeiten zu Les enfants du paradis alle bislang üblichen Anforderungen an Material und Personalaufwand in den Schatten. Für The Apartment forderte Wilder von ihm „das größte Büro aller Zeiten“. Sein grandioses Bild des 'Bauchs von Paris‘ schließlich war anläßlich der Dreharbeiten zu Irma la Douce die Insiderattraktion der Hollywoodstudios im Winter 1962/63 und wurde überdies von der französischen Kritik als „Quintessenz der gallischen Atmosphäre“ gerühmt.

Trauners Karriere läßt sich durchaus auch als die Geschichte der Ideen erzählen, die er gegen die Widerstände der Produzenten durchsetzen mußte, angefangen mit Le jour se leve, bei dem er um jedes zusätzliche Stockwerk des einsam hochragenden Hauses kämpfen mußte, denn er war überzeugt, daß sich die Isolation des Helden nicht dramatisieren ließe, wenn er sich nur im Parterre verschanzt.

Mit gleichem Recht kann man ihn indessen auch als einen intimistischen Ausstatter bezeichnen, dessen Handschrift sich in Marginalien und unaufdringlichen Vorlieben offenbart. Tapeten, Polster verziert er zumeist mit vertikalen Streifenmustern. Fensterscheiben sind nur selten bloße Flächen, er unterteilt sie liebevoll durch Streben, Leisten und Ornamente. Holzwände als Raumteiler sind transparent, besitzen eine jägerzaunähnliche Struktur, die überdies charakteristischen Schatten zu werfen vermag. Seine Zeichnungen und Bauten beweisen einen Hang zu Speichenradformen, die sich - halbiert - ideal für Oberlichter und Türbogen eignen. Und von Meerson hat er die Begeisterung für echte Pflastersteine übernommen.

Faszinierend die Genauigkeit, mit der er Details nachgeht: im ersten Akt von Irma la Douce wünscht sich Irma von ihrem Zuhälter einen Haartrockner, den zu kaufen er jedoch ablehnt; später, als Jack Lemmon ihre Geschäfte übernommen hat, steht ein Haartrockner - von der Kamera fast unbemerkt

-in ihrem Schlafzimmer.

Details werden isoliert, um dann aber organisch im gesamten Dekor aufzugehen. Das Zerstören eines kleinen Sandgefäßes führt in Land of the Pharaos zur Schließung der riesigen Grabkammern. Der Anblick des in den Schrank eingeschlossenen Telefons ist in Fedora ein visueller Schock für den Zuschauer, wird bald darauf jedoch Indiz dafür, daß die Villa dem Filmstar zum Gefängnis geworden ist. Ein Paravent ist in der Garderobe Arlettys in Les enfants du paradis illustriert mit Szenen aus dem Repertoire des Bühnenmelodrams, konkretisiert so für einen Augenblick die Liebesgeschichten des Films, fügt sich aber auch nahtlos in das Theaterambiente des Schauplatzes ein.

Die Arbeit des Filmbildners unterstützt Drehbuch und Regie jedoch vor allem, indem sie dem Zuschauer einen augenblicklichen Zugang zur sozialen Stellung einer Person (man denke an den Torbogen vor Michel Simons Haus in Drole de drame: bar jeder praktischen Funktion, einfach nur ein Ausdruck bürgerlichen Prestigewillens), zu ihrem Geschmack (man denke an die Kunstreproduktionen in Jack Lemmons Apartment im Film gleichen Titels) und zu ihrer Psychologie (etwa der Wurzellosigkeit der ehemaligen Geliebten in Rififi, die statt eines Kleiderschranks nur einen mit Plastik überzogenen Garderobenständer benutzt) verschafft.

Das Dekor vermag Spannungen zu visualisieren, die im Drehbuch angelegt sind. In Remorques (Gremillon) kontrastiert Trauners Ausstattung die Kontinuität der Ehe Jean Gabins und Madeleine Renauds mit der Kurzfristigkeit der Beziehung Gabins zu Michele Morgan: die Wohnung des Ehepaares ist voller die Gemeinsamkeit demonstrierender Erinnerungsstücke, das Hotelzimmer der Morgan ist indessen nur zur Hälfte eingerichtet, unbenutzte Möbel stehen zwischen unausgepackten Koffern, ein Teil des Raums wird renoviert. In Quai des Brumes ahnen Dekor und Licht schon die Bildsprache des film noir voraus: Michel Simons Andenkenladen wirkt im hellen Tageslicht wie eine kindliche Puppenstube, so makellos rein wie die Weste ihres Besitzers; der Lagerraum im Keller, in dem er möglicherweise kurz zuvor den Geliebten Michele Morgans ermordet hat, wird gleichsam zum Schattenwurf seiner Existenz. Halbausgepackte Souvenirs, Gartenzwerge meist, liegen wahllos zerstreut zwischen allerlei Bric-a-brac in einem ansonsten verwahrlosten Raum, der in ein bedrückendes Halbdunkel getaucht ist. Die Sphären können freilich auch an einem Ort aufeinandertreffen, sich gegenseitig anziehen. In Aimez-vous Brahms? begegnet der junge Anthony Perkins dem in der Midlife-crisis steckenden Paar Ingrid Bergman und Yves Montand in einem Nachtklub, dessen Dekoration wie eine kalkulierte Mischung aus zeitgenössischem Ambiente und antikisierenden Accessoires (zum Beispiel dem Säulengeländer, vor dem das Paar sitzt) wirkt. In One, Two, Three schließlich treibt Trauner ein listiges Spiel: auf der Weltkarte in James Cagneys Büro ist die gesamte östliche Hemisphäre überhaupt nicht eingezeichnet, denn dort gibt es ja auch keine Coca-Cola -Handelsvertretungen.

Jacques Prevert bescheinigte seinem Freund Trauner in decors, dem vielleicht einzigen Gedicht, das einem Filmausstatter zugeeignet ist, daß seine „architecture imaginaire“ nicht 'realistisch‘, dafür aber 'wahrhaftig‘ sei.

Trauners Dekors kopieren nicht etwas real Existierendes: eine Dekoration ist eine Fälschung. Der Filmbildner muß sie den Schauspielern und dem Publikum als glaubwürdig erscheinen lassen. Hierbei inspiriert er sich zu gleichen Teilen an der Recherche, der Dokumentation, und an seiner eigenen Vorstellungskraft. Deshalb lebt in seinen Dekors der Begriff des 'poetischen Realismus‘ weiter, lange nachdem er als filmhistorische Kategorie ausgedient hat: jedes Detail soll - fernab eines puren Naturalismus - wahrscheinlich sein, vor allem jedoch einer malerisch-poetischen Bestimmung genügen. Der Realismus wird gleichsam sublimiert in der Authentizität. Aber vielleicht hat sich Trauner auch nur der Worte erinnert, mit denen Ernst Lubitsch - lange bevor Trauner in Hollywood arbeitete - einem Journalisten antwortete: „There is a Paramount-Paris and Metro Goldwyn Mayer-Paris and, of course, the real Paris. But Paramount's is the most Parisian of all!“